Zur Schindluderei mit dem Begriff der Demokratie. Ein Zwischenruf am Rande der Debatte um die Durchsetzungsinitiative

kas_66689-1095-1-30_50Ich war heute im Regionalfernsehen nochmals zu einer Debatte zur Durchsetzungsinitiative eingeladen (Ausstrahlung am 10.2.2016, 18.30 Uhr auf Tele M1). Dabei ist mir wieder einmal aufgefallen, was mich an der aktuellen Debatte rund um die unsägliche Durchsetzungsinitiative sehr grundsätzlich stört. Es ist die Schindluderei, die seitens SVP und leider vieler Journalist_innen mit dem Begriff der Demokratie betrieben wird. Mindestens zwei Diskussionen müssen wir in diesem Land führen (von mir aus ab dem 29. Februar).

Die erste Diskussion betrifft die Engführung der Demokratie auf Volksabstimmungen. Auch ich bin ein Fan der Volksrechte, keine Frage. Aber ist das Recht abzustimmen und dann zur Mehr- oder zur Minderheit zu gehören wirklich alles, was Demokratie ausmacht oder gar das Herz der Demokratie? Ich glaube, es ist weder noch. Etwas überspitzt formuliert: Was den Unterschied zwischen den zwei grossen Totalitarismen im Europa des 20. Jahrhunderts – dem Faschismus und dem real existierenden Sozialismus – und der bürgerlichen Demokratie ausmacht, sind nicht Volksabstimmungen. Ein kurzer Blick auf die demokratischen Systeme unserer Nachbarländer macht das einleuchtend (nein, diese Staaten haben keine schlechtere Demokratie, sondern eine andere). Entscheidender ist wohl die Garantie unverrückbarer individueller und kollektiver Rechte. Erst diese Rechte schaffen überhaupt Raum für eine – einigermassen – demokratische Debatte. Ohne zum Beispiel die Garantie der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung wären Volksabstimmungen gar nicht denkbar. Gäbe es diese Recht nicht, verkäme die Herrschaft der Mehrheit zu einer Tyrannei über die Minderheit – die Unterlegenen könnten sich nicht mehr wehren. Genau das ist das gefährliche an dem eben fundamental antidemokratischen Gedankengut, dass der Durchsetzungsinitiative zu Grunde liegt (Ja, die SVP ist eine antidemokratische Partei. Nein, das ist keine Beleidigung, das ist schlicht eine zutreffende Beobachtung).

Zweitens geht es um die Frage, wie demokratisch eine Volksabstimmung über das Schicksal von Menschen, die selber nicht mitstimmen dürfen – hier der Ausländer_innen – überhaupt sein kann. Die einfachste und allgemeingültigste Definition von Demokratie lautet wohl irgendwie wie folgt: Ein System, in dem die von Herrschaft betroffenen selber darüber entscheiden, wie diese Herrschaft aussieht und wer sie ausübt. Genau darauf sind wir ja immer so stolz: Bei uns entscheidet das Volk selber, kein König und keine Klasse von Berufspolitiker_innen. Der Witz an der Durchsetzungsinitiative ist ja aber genau das: Die Betroffenen – also z.B. die Secondos und Secondas – haben zu einer Verfassungsbestimmung, die später ausschliesslich sie betrifft überhaupt nichts zu sagen. Der entscheidende Unterschied zwischen einer aristokratischen Herrschaft und der Demokratie besteht genau darin, dass jeder und jede eben bedingungslos über die politischen Rechte verfügt. Man muss keiner bestimmten Familie angehören, keinen Loyalitätsnachwes erbringen, es reicht, geboren, volljährig und mündig zu sein. Eben: Wer von Herrschaft betroffen ist, darf mitentscheiden. Punkt. Eigentlich. Nur bei 25% der Bevölkerung, ist das „eigentlich“ recht gross geschrieben. Dass wir das in einem Land, in dem es offenbar ein heiliges demokratisches Grundrecht ist, dass jede Gemeindeversammlung über die Farbe des Gigampfi auf dem Kinderspielplatz abstimmen kann, so selbstverständlich finden, ist doch eher ein Paradox, nicht?

Die Debatte darum, was eigentlich Demokratie genau ist, wird dieses Land in den kommenden Jahren prägen. Wir – die Linke und alle, die sich mit ihr um die Demokratie und unsere Grundrechte sorgen – tun gut daran, den Begriff nicht weiter der SVP zu überlassen.

 

Update (10.2.16): Matthias Bertschinger hat die Frage auf seinem Blog weitaus differenziert als ich hier Diskutiert. Der Text wurde auch auf infosperber.ch übernommen.

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