Im Sonntagsblick von letzter Woche „schlägt SVP-Gemeinderätin Martina Bircher Alarm„. Wegen der hohen Sozialhilfekosten. Alarm schlagen sollten aber alle anderen: Wegen der Verdrehung von Fakten in Kooperation mit den Blick, Neudeutsch: Fake-News. Blick und Bircher vermischen munter verschiedene Rechnungen und Politikbereiche um das Bedrohungsszenario möglichst glaubhaft erscheinen zu lassen. Hier in Kürze ein paar Anworten.
- In einer Tabelle listet der Blick Daten der Gemeinde Aarburg über einzelne Sozialhilfebezüger*innen auf. Der angeblich krasseste Fall: Vier Personen aus dem Irak bezogen seit 2004 580’000 Franken, dann einige weitere (siehe hier). Die Zahl erscheint hoch, wenn sie so zusammenzieht, relativiert sich allerdings schon, wenn man sie durch 14 teilt: Dann kommt man noch auf 3’450 Franken pro Monat für die vier Personen – reich wird da niemand. Die Behauptung, die Sozialhilfe sei „viel zu lukrativ“ (Bircher) ist ein Hohn. Natürlich gibt es Leute, die auch mit Arbeit nicht mehr oder nicht viel mehr verdienen. Genau solche Hungerlöhne sind der Skandal – dagegen will die SVP im Namen der heiligen Wirtschaftsfreiheit aber ja bekanntlich nichts machen.
- Es kommt aber noch dicker. Der Blick schreibt, unter den aufgelisteten Personen seien auch „Flüchtlinge“. Nun: Für Flüchtlinge bezahlt der Bund die ersten fünf Jahre Sozialhilfe, für vorläufig aufgenommene Flüchtlinge sogar während sieben Jahren. D.h. die aufgeführten Zahlen der Gesamtkosten – von denen man so tut, als hätten Sie die Aarburger Steuerzahler berappen müssen – sind, gelinde gesagt fragwürdig. Mindestens einen Teil davon haben sie nicht bezahlt, sondern der Bund. Angegeben ist das nicht. Das ist bestenfalls schlampig gearbeitet. Man könnte auch mit Fug und Recht von bewusster Irreführung reden. Den Aufenthaltsstatus zu erfahren wäre für den Journalisten ein leichtes gewesen.
- In einem Nachzug im Blick von gestern schreibt die Zeitung, der Kanton Aargau habe sich dieses Jahr aus der Finanzierung der Sozialhilfekosten zurückgezogen. Das krasse an dieser Aussage ist: Das ist schlicht falsch. Tatsächlich hat der Aargau auf 2017 ein neues System des Finanzen- und Lastenausgleichs in Kraft gesetzt. Tatsächlich wurde das komplizierze System der Finanzierung der Sozialhilfekosten durch einen direkten Ausgleich ersetzt. Nur: Das neue System kommt ausgerechnet Gemeinden wie Aarburg entgegen! Die Aargauer Zeitung hat das hier sehr gut dargestellt, unter Punkt 6 sieht man, welche Gemeinde wie profitiert. Hier findet ihr die Zahlen für 2018. Aarburg erhält (zu Recht) über vier Millionen Ausgleich, davon 1.8 Mio Soziallastenausgleich, das ist Spitze. Darüber hinaus werden neu die Kosten für Sozialhilfefälle über 60’000 Franken/Jahr sogar gepoolt, d.h. Gemeinden mit teuren Fällen werden nochmals entlastet (Details dazu im Abstimmungsbüchlein ab S. 7). Geradzu grotesk ist daher das Zitat dazu “ Schon heute wären wir zahlungsunfähig, wenn wir nicht massiv vom Aargauer Finanzausgleich profitieren würden.“ Richtig. Genau deshalb, ist der Ausgleich ja da…
- Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, der Ausgleich sei für Gemeinden wie Aarburg zu schwach. Das stimmt wahrscheinlich sogar. Leider hat sich die SP im Rahmen der Debatte um die Neuorganisation des Finanzausgleichs (siehe oben) erfolglos für eine weitergehende solidarische Finanzierung der Sozialhilfekosten eingesetzt. Lustig ist aber die Antwort auf folgende Quizfrage: Welche Partei hat sich wohl schon gegen die beschlossenen Massnahmen gewehrt und wollte Gemeinden wie Aarburg ihrem Schicksal überlassen? Wers noch nicht erraten hat, kann hier nachlesen.
- Krass tönt auf den ersten Blick der Umstand, dass „ein Drittel der Steuereinnahmen“ in die Sozialhilfe fliessen. Das stimmt je nach dem, wie man rechnet (wenn man die Verwaltungskosten der Gemeinde Aarburg miteinrechnet, kann man so argumentieren – das Geld geht allerdings nicht, wie insinuiert alles in die Taschen der Bezüger*innen). Richtig ist sicher: Die Belastung der Gemeindekasse Aarburg ist um ein vielfaches höher als z.B. Oberwil-Lieli. Allerdings muss man genau das im Kontext sehen: Es ist logisch, dass eine Gemeinde, die eine höhere Sozialhilfequote aufweist auch eine tiefere Steuerkraft hat. Wenn nun, wie im Aargau (vor den Ausgleichszahlungen), die Sozialhilfe in der Gemeindekompetenz ist, ist es auch logisch, dass der entsprechend Anteil hoch ist. Die Aussage spricht vor allem für eines: Dafür, dass der Steuerkraftausgleich und der Ausgleich der Sozialhilfekosten im Kanton verbessert werden müssten. Das paradox ist hier das gleiche: eine SVP-Gemeinderätin beklagt sich über ein Problem, dass wir ohne die SVP nicht hätten. Ohne eine einzige kritische Frage seitens der Journalisten.
- Zum Abschluss des Finanzteils eine Art Funfakt, wenns denn lustig wäre: Der Artikel und Frau Bircher (die SVP) vermischen ja generell sehr gerne Ausländer- und Sozialhilfepolitik. Wie Frau Bircher gegen Sozialhilfe für Flüchtlinge schiesst wirkt doch eher grotesk, wenn man sieht, dass die Gemeinde Aarburg für 2018 unter „Asylwesen“ (S. 46, Stelle 573) einen Ertrag, also quasi einen Gewinn, von 60’000 Franken budgetiert. So von wegen Asylindustrie…
Der Artikel ist auch ein schönes Beispiel, wie man politisch faktenfrei Stimmung macht. Im ersten Artikel wirft man mal mit ein paar offensichtlich nicht überprüften Zahlen um sich. Dann macht man einen Nachzug unter dem Titel „Sozialhilfe-Chaos“ (notabene über eine Gemeinde in einem Kanton, der gerade erstmals in der Geschichte die Sozialhilfezahlungen entflechtet hat) und relativiert dann im letzten Abschnitt eigentlich alles, was man oben gesagt hat. Aber die Hauptpunkte sind gesetzt: Sozialhilfe ist zu hoch, Gemeinde geht kaputt, Schuld sind die Ausländer. Es gehe halt, um die „langfristige Überlebensfähigkeit der Schweizer Sozialwerke“, so die Rechtfertigung am Schluss. Tatsächlich ist die Schweizer Sozialhilfequote eigentlich seit Jahren stabil ist, der Aargau sogar deutlich unter dem Durschnitt liegt – übrigens lustigerweise sogar bei der Sozialhilfe im Asyl- und Flüchtlingsbereich. Das Problem sind die steigenden Kosten pro Fall. Das liegt gemäss einem Bericht der SKOS – o Wunder – an den explodierenden Kosten für Wohnen und Krankenkassenprämien. Übrigens ist das auch die Antwort, was man denn wirklich für tiefere Sozialhilfekosten tun kann: Gemeinnütziger Wohnungsbau ausbauen und Prämienexplosion stoppen. Ebenfalls nicht gerade Steckenpferde der SVP.
Nun, sicher ist es richtig, dass die Sozialhilfekosten für Gemeinden eine hohe Belastung sein können. Aber nochmals: Das ist ein schlicht und ergreifend ein Problem der innerkantonalen Organisation. Und von nichts anderem. Sich darüber zu beklagen und der Partei anzugehören, die kantonal und national jede Soldaritätslösung in diesem Bereich zu blockieren versucht, ist dann doch eher, sagen wir kreativ. Abgesehen davon ist die journalistische Leistung unterirdisch. In den Artikeln fehlt jede kritische Rückfrage: Was zum Beispiel macht Aarburg für die Arbeitsintegration dieser Leute? Man könnte z.B. von Petra Huckele (SP) in Oberentfelden lernen, wie man das macht. Wenn man schon Gemeindeverantwortung will, dann muss man sie auch übernehmen.
Martina Birchers Vorschlag besteht nun darin, Art. 63 Abs. 1 lit c des Ausländergesetzes AuG anzurufen, also die Möglichkeit die Niederlassungsbewilligung, bei „dauerhaftem“ und „erheblichem“ Bezug von Sozialhilfe zu entziehen. Der Artikel zeigt, wie man mit Halbwahrheiten Stimmung macht: “ Laut bundesgerichtlichen Kriterien müssten Personen ab 80’000 Franken (C) beziehungsweise 50’000 Franken Bezug (B) eigentlich konsequent überprüft werden. 2016 wurden Sozialhilfebezügern in Aarburg aber keine Aufenthaltsbewilligungen entzogen. Im ganzen Kanton waren es zwei Personen.“ Mit keinem Wort fragt sich der Blick offenbar, ob Überprüfungen stattgefunden habe. Nur weil eine kann-Bestimmung im Gesetz steht und die Leute dann nicht ausgewiesen wurden, heisst das ja noch lange nicht, dass es niemand geprüft hat. Und bei Flüchtlingen ist das dann auch nicht so einfach. Wegen so Nichtigkeiten wie dem Prinzip, dass man niemanden in ein Land schicken darf, wo ihm Folter oder Tod droht (ich weiss, ich weiss, findet die SVP auch sozialromantisch). Es gibt auf jeden Fall zig Gründe, warum eine Prüfung negativ ausfallen kann. Und überhaupt: Der „Dienstweg“ besteht darin, dass sich die Gemeinde beim Kanton meldet. Dann würde sie auch die Antwort kennen. Wenn das nicht geschehen ist, hat der Gemeindrat seinen Job nicht gemacht, nicht der Kanton.
Kurz: Ich nehme Martina Bircher die Sorge um die Gemeindefinanzen absolut ab, das ist sicher ehrlich. Aber ihre Politik als SVP-Gemeinderätin ist völlig widersprüchlich. Zur Blick-Kampagne kann man wenig gutes sagen. Natürlich, die Zahlen sind nicht „falsch“. Nur, ist weglassen nicht auch irgendwie falsch, vor allem, wenn es die Interpretation umkehrt? Aufgabe des Journalismus ist die Kontextualisierung von politischen Forderungen. Ein Lehrstück was damit passiert, wenn nur noch Klickraten und Titel zählen. Was man auslöst, kann man in den Kommentarspalten lesen…