Charles Lewinsky fordert in einem leidenschaftlichen Plädoyer eine neue Hinwendung der Intellektuellen zur politischen Mitte. Die Extrempole – damit meint er seine eigene Partei (die SP) und die SVP – seien heute von Irrationalität geprägt. Sie würden angeführt von „Vordenkern“, bei denen „Sachlichkeit auf taube Ohren“ stosse. Aufgabe der Intellektuellen müsse es heute sein, nicht „unrealistische Forderungen“ zu stellen, sondern sich stärker für den Status quo einzusetzen, sonst sei der „Triumphzug der Irrationalität“ unaufhaltsam.
Charles Lewinsky greift in einem Artikel in der Zeit das neue Parteiprogramm der SP als „unsachlich“ und „irrational“ an. Hier meine Replik (erschienen am 13.1.2011 ebenfalls in der Zeit).
Realpolitik oder was ist die Mitte?
Diese Kritik insbesondere an der Sozialdemokratischen Partei ist für mich nicht nachvollziehbar (für die SVP kann und will ich nicht sprechen). Lewinsky postuliert ein etwas technokratisches Bild politischer Realität. Für ihn gibt es so etwas wie die objektive Mitte und ausserhalb davon Extreme – und diese setzt er dann gleich mit Unsachlichkeit und Irrationalität. Dabei geht vergessen, dass politische Realitäten nicht vom Himmel fallen, sondern immer die Folgen von gesellschaftlichen Kämpfen um Macht und Einfluss sind und sich im Laufe der Zeit ständig verändern. Was vielleicht früher extrem und irrational war – z.B. die Forderung nach dem Frauenstimmrecht – ist heute Konsens. Der heutige Konsens sagt auch: Es gibt keine Alternative zum „realpolitischen“-neoliberalen Kapitalismus – folglich ist jeder und jede, die daran zweifelt, ein Spinner. Aber, diese Krise haben uns nicht die von Lewinsky kritisierten visionären Intellektuellen oder Parteien eingebrockt, sondern gerade die so genannten Pragmatiker oder „Realpolitiker“.
Den Kapitalismus abschaffen? Nichts sachlicher als das.
„Sachlich“ lässt sich der Status quo noch weniger verteidigen: Er hat dazu geführt, dass die Reichsten 300 in der Schweiz nach der Krise 20 Milliarden mehr besitzen als vorher – der grosse Rest leidet unter dem Verlust von Jobs, Kaufkraft und Perspektiven. Das Privileg der Intellektuellen wäre es nun eben genau, ausserhalb dieses Konsens zu denken und neue Anstösse zu geben. Lewinsky fordert das Gegenteil: Er verurteilt jene, die es nach dem offensichtlichen Scheitern des „realpolitischen Mainstream“ wieder wagen gesellschaftliche Alternativen vorzuschlagen – anstatt diejenigen, die eine Rückkehr zum business as usual fordern. Politisch irrational ist heute sicher nicht, wer den Kapitalismus humanisieren oder überwinden will, sondern derjenige, der ihn für das Ende der Geschichte hält.