„Betroffen“ ist man von einer Pestepidemie – nicht von Asylsuchenden

aarburgLiebe Aarburgerinnen und Aarburger,
überall aus dem Kanton bringt man euch in diesen Tagen viel Verständnis für euren Mini-Aufstand entgegen. Ich muss sagen, ich habe kein Verständnis dafür, gar keines.

Natürlich, der Kanton Aargau hat ein absurdes System der Zuteilung von Asylsuchenden. Reiche Gemeinden können sich faktisch von der Verpflichtung frei kaufen, Asylsuchende zu beherbergen. Das geht nicht. Nur sind es genau jene Parteien, die jetzt applaudieren, die im Aargauer Grossen Rat dieses System eingerichtet haben und es verteidigen.

Man sei nicht fremdenfeindlich, man habe nichts gegen Asylsuchende, behaupten die Organisator_innen der Proteste. Es gehe nur um die Kommunikation des Kantons. Natürlich kann es sein, dass der Kanton schlecht kommuniziert. Er habe mit den „Betroffenen“ das Gespräch nicht gesucht. Nur: Warum steht dann auf euren T-Shirts und Plakaten „Asylzentrum Nein!“ und nicht „Kanton Aargau: So nicht!“? Warum findet das Protestgrillieren dann vor den Wohnungen für Asylsuchende statt und nicht vor dem Büro von Susanne Hochuli? Und vor allem: „Betroffen“ ist man von einer Pestepidemie, von Krieg oder Naturkatastrophen. Aber nicht von Menschen – Asylsuchende sind doch keine Krankheit! Und „betroffen“ sind schon gar nicht diejenigen, die halt ein paar arabische oder dunkle Gesichter in ihrer Nachbarschaft „ertragen“ müssen, betroffen sind höchstens jene, gegen die protestiert wird, noch bevor sie irgendwer kennengelernt hat.

2.5 Millionen Syrerinnen und Syrer sind zur Zeit im Ausland auf der Flucht. 40% der Bevölkerung ist insgesamt auf der Flucht. 500’000 von ihnen sind weniger als 4 Jahre alt. Weitere 500’000 sind unter 11 Jahren. Der Libanon hat 1’000’000 Menschen aus Syrien aufgenommen, Jordanien 600’000, die Türkei 600’000. Am 9. April griff die italienische Marine 4000 Menschen vor Lampedusa auf. Soviele Menschen wie im Städtchen Aarburg leben sind seit den 90er Jahren beim verzweifelten Versuch das Mittelmeer zu überqueren elendiglich verreckt und ersoffen*.

Und was tut die Schweiz in ihrer grossartigen Grosszügigkeit? 500 Syrerinnen und Syrer will der Bundesrat in einem „humanitären Akt“ aufnehmen. Max Frisch schrieb in der “Überfremdung“ das Problem an der Schweiz sei, dass sie zwar berühmt sei für ihre humanitäre Tradition – aber eben nur bei sich selber. Wie recht er hat. Und wenn dann die humanitäre Tradition tatsächlich einmal anklopft, dann rufen wir durch das Guckloch: „So haben wir’s natürlich nicht gemeint! Wir meinten eigentlich die anderen…“. So geht das nicht.

Auf der Facebook-Seite der Protestgrillierer kann man lesen, um was es wirklich geht: Es sei ein Skandal, dass sich alle (alle!) Asylsuchende teure Markenschuhe** leisten könnten. Es sei unglaublich, dass man ihnen wunderschöne, neue, teure Möbel in die Wohnungen stellen wolle und dann seien das auch noch riesige Luxuswohnungen, die viele anständige Schweizer Familien nie (nie!) bekommen würden! Am 1. Mai – welch‘ Ironie der Geschichte – verkündete der Gemeinderat dann, die Asylbewerber_innen könnten leider nicht in ihre Luxuswohnnungen ziehen – wegen Baumängeln am Gebäude und weil die Brandschutzvorschriften nicht eingehalten seien. Was für ein Zynismus – in Bettwil und Bremgarten hat man wenigstens noch versucht so zu tun, als hätte man Argumente.

Der Kanton Aargau erlebt nach Bettwil und Bremgarten zum dritten Mal eine Welle des Hasses. Dramatisch, unprofessionell und völlig inakzeptabel ist gerade in Aarburg die Haltung der Gemeindevertreter_innen. Anstatt dieses absurde Theater in seine Schranken zu weisen, heizt Ammann Schär den Konflikt noch weiter an. Eine himmeltraurige und mutlose Kapitulation der demokratischen Institutionen.

Liebe Aarburgerinnen und Aarburger, in der Schweizerischen Bundesverfassung steht in der Präambel: Das Wohl der Nation messe sich am Wohl der Schwächsten. Es gibt keine Klammer, in der steht, Asylsuchende seien dann aber nicht gemeint. Nehmen wir unsere Bundesverfassung ernst, dann geht es der Nation – zumindest im Aargau – nicht gut. Wenn das so weiter geht, dann fühle ich mich in diesem Land langsam tatsächlich überfremdet – aber von meinen eigenen Landsleuten, nicht von den Migrant_innen.

Dieser Text ist ein leicht veränderter Auszug aus meiner 1. Mai Rede in Zofingen. 

* Update: Neuste Schätzungen gehen von einer noch viel höheren Zahl von Toten aus.

** Eine Klammerbemerkung: Man beachte die Zirkellogik dieses Arguments, dass man in verschiedener Form immer wieder hört: Kommen die Asylsuchenden mit teuren Markenschuhen, brauchen sie unsere Unterstützung ja offensichtlich gar nicht und missbrauchen damit das Asylrecht – kommen sie in kaputten Kleidern und Schuhen, sind sie offensichtlich „Wirtschaftsflüchtlinge“ und missbrauchen damit das Asylrecht.

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