Wir haben in den letzten Jahren bereits erlebt, wie sich private Medien willfährig für Lügenkampagnen einspannen lassen. Aber so früh und so dreist wie bei der Debatte um die Altersreform 2020 war es schon lange nicht mehr. Die NZZ am Sonntag zum Beispiel verwendet zweifelhafte Beispiele und behauptet eigene Berechnungen angestellt zu haben, während sie in Wahrheit einfach Textbausteine des Bundesamtes für Sozialversicherungen abschreibt. Oder die Aargauer Zeitung, die aus Versehen die Werbebroschüre eines Privatversicherers als „Studie“ ausgibt. Den Vogel schiesst jetzt allerdings der Blick ab. In Ermangelung brauchbarer Grundlagen für die Panikmache, schlägt Autor René Lüchinger eine neue Strategie ein: Er verzichtet gleich vollständig auf belastbare Argumente. Was das Blatt unter dem Titel „Zwei Lahme sind nicht schneller als einer allein“ abdruckt, ist im wesentlichen der Versuch, durch die wirre Verwendung absurder Analogien und das um sich werfen mit (vermeintlichen) Fachbegriffen Kompetenz vorzugaukeln und Verwirrung zu stiften. Nachfolgend die zentralen Aussagen des Artikels kurz kommentiert (damit das auch gesagt ist: Der Blick hat Anfang dieser Woche eine sehr gute Übersicht zur Reform geliefert. Schade konterkariert man diese Arbeit mit diesem substanzlosen Pamphlet).
„Die AHV wäre so betrachtet eine Firma, die Einkünfte, Kosten und Liquidität langfristig im Lot halten muss.“
Der Artikel beginnt gleich mit einem völlig unhaltbaren Vergleich, der dann die ganze Argumentation (soweit vorhanden) legitimiert. Die AHV ist keine Firma, deshalb kann sie auch nicht mit einer Firma verglichen werden. Die AHV hat fix vorgegebene Einnahmen und Ausgaben (die dann auch noch gleich hoch sind), Verfassungsrang als Sozialwerk, keine Konkurrenz auch keine Kunden, wir sind schliesslich alle zwangsversichert. Es gibt keinen Markt für die 1. Säule. Damit sind schon mal alle Argumente, die aus diesem Vergleich folgen Hanebüchen.
„Die sogenannten Babyboomer, die nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1960er-Jahre hinein dem Land den Segen vieler Kinder und dem Fabrikbesitzer mit einer Zeitverzögerung von rund zwei Jahrzehnten viele willige Arbeitskräfte gebracht hat, sind alt geworden […] Er [der imaginäre Finanzchef der AHV] ist Hüter des Geldtresors, zahlt die Renten aus und ist abgrundtief verzweifelt. Es stehen immer mehr Pensionäre vor seiner Türe. Bis ins Jahr 2035, hat er ausgerechnet, werden es 60 Prozent mehr sein als heute. Die Folgen sind dramatisch: Für jeden Rentner, der vor seiner Türe steht, arbeiten heute noch 3,5 Arbeiter in der Fabrik und verdienen Geld für die AHV-Firma. 2035 werden es noch zwei Arbeiter sein.“
Das Argument offenbart das fundamentale Unverständnis des Autors nicht nur für den Finanzierungsmechanismus der AHV, sondern ganz grundlegend für das, was eine moderne, kapitalistische Volkswirtschaft ausmacht. Diese Argumentation ist durchaus richtig, allerdings nur für eine Agrarökonomie mit weitgehender Subsistenzwirtschaft – eine Welt also ohne technische Innovation und Kapitalismus (im wesentlichen also vor der industriellen Revolution). In einer solchen Ökonomie gilt Bevölkerungsgrösse/Anzahl Höfe = Wirtschaftsleistung. In einer solchen Wirtschaft gibt es praktisch keine technische Innovation, also auch keine Steigerung der Produktivität. Das ist ein fundamentaler Unterschied zum modernen Kapitalismus. Für die Schweiz kann man für die letzten Jahrzehnte grob 1% gesamtwirtschaftliches Produktivitätswachstum pro Jahr unterstellen (vgl. zum Beispiel hier). Und genau da liegt der Punkt: Der reine Vergleich Erwerbstätige vs. Rentner*innen sagt überhaupt nichts aus über die Solidität der Finanzierungsbasis der AHV. 1950 erwirtschaftete jede*r Beschäftige in der Schweiz im Schnitt 56’000 Franken bei einem Durchschnittslohn von 24’000 Franken. Heute sind wird bei 156’000 Franken Arbeitsproduktivität und einem Durchschnittslohn von 106’000 Franken (weil auf jeden Franken Lohn AHV-Beiträge bezahlt werden kann man hier den Durchschnitt verwenden, auch wenn dieser noch wenig sagt über die reale Verteilung des Lohneinkommens). 1950 kamen auf eine*n Rentner*in 7.3 Beschäftigte. Diese finanzierten die damalige AHV-Mindestrente von 595 Franken. Für den gleichen Betrag braucht es heute nur noch 1.7 Beschäftigte. Finanzierten 1948 noch 6.5 Erwerbstätige eine*n Rentner*in, sind es heute noch 3.4.[1]
Der Blick weiter: „Für den Finanzchef der AHV-Firma bedeutet dies: Immer weniger Geld fliesst aus der Fabrik in seine Kasse, aber immer mehr Bares verschwindet im Portemonnaie der immer zahlreicheren Rentner.“
Die Aussage es würde „immer weniger Geld“ in die AHV fliessen ist schlicht falsch/gelogen (man wähle die Formulierung selber). Tatsache ist: Die AHV Einnahmen wachsen mit dem BIP, der Produktivität, der Bevölkerung (z.B. der steigenden Erwerbsbeteiligung der Frauen) und den Löhnen. So haben sich die Einnahmen seit 1973 mehr als verdoppelt, obwohl die Lohnbeiträge gleich geblieben sind (8.4%). Die AHV Einnahmen wachsen IN ALLEN Szenarien (man schaue hier). Die Frage ist, ob sich eine Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben für Renten öffnet. Und das ist der Gipfel: Ohne Reform gehen das BSV im Jahr 2030 von einer Lücke von ca. 7 Milliarden aus, mit der Reform ist die AHV bis dahin AUSFINANZIERT. Um trotzdem noch sowas wie ein Scheinargument zu haben, verwendet der Blick Schätzungen für das Jahr 2035. Nur: Niemand hat je mehr behauptet, als, dass die vorliegende Reform die AHV bis 2030 ausfinanzieren würde. Das ist der Horizont der Reform, nicht das Hirngespinst aus dem Newsroom. Im Klartext: Der Text versucht genau das Gegenteil von dem zu vermitteln, was mit der Reform effektiv erreicht wird.
Richtigerweise gibt der zitierte Experten dann auch zu: „Dass die Babyboomer die AHV überdurchschnittlich belasten, ist klar. Aber das ist vorübergehend und wäscht sich über die Jahre aus.“ Er sieht allerdings das Problem in den blöden Rentner*innen, einfach nicht sterben wollen: „Das wirkliche Problem ist die stark gestiegene Lebenserwartung.“
Auch diese Panikmache entbehrt jeder Grundlage. Bei der Einführung der AHV betrugt die Lebenserwartung bei Geburt 67.3 Jahre, heute liegen wir bei knapp 81 Jahren für die Männer und 85 Jahren für die Frauen, im Schnitt also irgendwo um die 83 Jahre.[2] Jetzt könnte man noch argumentieren, bisher sei zwar schon alles gut gegangen, aber in Zukunft würden wir ja alle noch viel älter. Das mag sein. Genau darum wird die Finanzierung der Renten alle paar Jahre überdacht, seit der Einführung der AHV bisher über zehn Mal. Grund für Panik gibt es heute nicht. Tatsächlich weisen die neusten Daten sogar eher auf eine Verlangsamung der Entwicklung der Lebenserwartung hin.
Weiter im Text: „In der Tat: Heute kann ein Erst-AHV-Bezüger damit rechnen, dass er nach 40 Jahren Erwerbsleben noch 20 Jahre Ruhestand erlebt. Das bedeutet: In 40 Jahren Arbeit muss er genügend Kapital ansparen, um nochmals die Hälfte dieser Zeitspanne zu finanzieren.“
Die AHV-Renten werden nach dem Umlageverfahren finanziert. Das heisst, die laufenden Einnahmen decken die laufenden Ausgaben. Kapital ansparen tut also in der AHV niemand. Aber man kann ja mal ein paar Sachen durcheinanderbringen, das klingt dramatischer.
„Beunruhigend für unseren AHV-Säckelmeister ist aber auch etwas anderes: Statt bei einem Sanierungsfall das zu tun, was in jedem betriebswirtschaftlichen Lehrbuch steht, nämlich zu sparen und mit dem noch vorhandenen Geld haushälterisch umzugehen, hat der Verwaltungsrat der AHV-Firma das Gegenteil beschlossen.“
Die AHV gibt per Definition gleich viel Geld aus, wie sie einnimmt. Genau dieses Verhältnis stellt die Reform auch sicher. Hier aber verwechselt der Blick nicht nur die AHV mit einer Firma, sondern die Firma auch gleich noch mit einem Privathaushalt. Ein übrigens verbreiteter Trick, wenn man Abbauprogramme und Austeritätspolitiken verkaufen will. Der Punkt ist: Eine Firma, die saniert werden muss, muss selbstverständlich ihre Kosten senken. Vor allem aber sucht sie neue Investoren und neues Kapital. Sie verschuldet sich. Genau das tun auch Staaten. Der Unterschied zum Privathaushalt ist nun aber: Dadurch werden Unternehmen und Staaten reicher, nicht ärmer. Zumindest, wenn das Geld richtig investiert wird. Privathaushalte zahlen auf einen Kredit einen Zins. Das heisst, sie haben nach Abzahlung der Schuld weniger Geld als vorher. Unternehmen und Staaten aber investieren Fremdkapital. Unternehmen sollten nachher wieder Gewinn machen, im Idealfall einer der es erlaubt, die Zinsen zu bedienen. Das gleiche bei Staaten: Staaten werden durch fremdfinanzierte Investitionen z.B. in Infrastruktur oder Bildung, aber eben auch in Renten, nicht ärmer, sondern reicher. Sie bauen Vermögen auf und/oder kurbeln die Wirtschaft an.
„Weil die Babyboomer in den nächsten Jahren immer zahlreicher in Rente gehen, steigen die jährlichen Kosten für das 70-Franken-Geschenk immer weiter an: Im Jahr 2035 schlagen diese mit zwei Milliarden Franken zu Buche! «Jenseits von Gut und Böse», kommentiert Ulrich Grete, «dies verschärft die Finanzierungslücke, auf deren Reduzierung jeder Neurentner so dringend angewiesen wäre.“
Zuerst einmal: Die Erhöhung der AHV-Renten ist kein Geschenk. Sondern erstens eine Kompensation für die Senkung des Umwandlungssatzes in der 2. Säule. Und zweitens ein längst überfälliger Schritt zur Korrektur der wachsenden Differenzen zwischen Löhnen und Renten. 1980 wurde zur Berechnung der AHV-Renten der so genannte Mischindex eingeführt. Diesem Index liegen die Lohn- und die Preisentwicklung je zur Hälfte zu Grunde. Als der Index eingeführt wurde, langen Jahrzehnte hinter der Schweiz, in denen die Inflation (Preisentwicklung) regelmässig bei vier, fünf, sechs Prozent lag. Mit der Neoliberale Finanzialisierung der Wirtschaft allerdings, wurden die Zentralbanken auf das ZIel tiefer Inflationsraten verpflichtet (ja, neoliberale Wirtschaftspolitik schadet deiner Rente, aber das ist ein anderes Thema). Seit Ende der 80er Jahre liegt die Inflation deshalb relativ konstant unter 2%, in den letzten Jahren hatten wir sogar mehrmals Negativteuerungen. Resultat: Der Rentenindex ist seit 1980 um 114% angestiegen, die Löhne aber um 135%.[4] Die 70 Franken sind also kein Geschenk, sondern bestenfalls ein Teil einer nachholenden Entwicklung. Geradezu pervers ist dann auch der Abschlusssatz in diesem Zitat. Selbst wenn man die Prognosen bis 2035 anschaut: Die Reform verkleinert auch bis dann die Finanzierungslücke gegen dem Status quo.
„Nur zum Teil werden diese neuen Kosten durch eine schrittweise Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,6 Prozentpunkte sowie Lohnprozente gedeckt.“
Das ist falsch. Der Blick versucht den aktuellen Rentner*innen weis zu machen, dass sie die Erhöhung der Neurenten mitfinanzieren. Das stimmt allerdings nicht. Die Erhöhung der AHV-Renten für Neurentner*innen wird durch die Neurentner*innen selber finanziert. Nämlich über die Erhöhung der Lohnbeiträge um insgesamt 0.3%. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer – übrigens gegenüber heute ab 2012 um 0.3%, nicht 0.6% (0.3% werden bereits heute für die IV verwendet) – deckt die kommenden Mehrausgaben durch die Babyboomers ohne Rentenverluste für alle.
„Es ist diese Verquickung von AHV und BV, was einem Ulrich Grete die Zornesröte ins Gesicht treibt.“
Der ganze Text bleibt auch nur ein einziges Argument schuldig, wo denn genau das Problem liegt, wenn sinkenden Renten in der 2. Säule in der ersten kompensiert werden. Genau das ist die Stärke der Reform. Nur so war es möglich unter dem Strich das Rentenniveau zu halten. Und nur das zählt am Ende für die Versicherten (oder es zählt am meisten).
„Die monatlich um 70 Franken erhöhte AHV soll eine reduzierte Berufliche Vorsorge kompensieren. «Auf beiden Seiten schlummern ungedeckte Schecks», sagt Meier.“
Nochmals: Die AHV wird im Umlageverfahren finanziert. Es gibt keine ungedeckten Schecks. Keine Ahnung, wo die ihre Wahnvorstellungen her haben (also, doch, natürlich schon :-)).
„So bleibt als Fazit: AHV und BV sind zu Sanierungsfällen geworden. Mehr noch: Weil die Altersvorsorge 2020 beide Sozialwerke ökonomisch verbindet, werden sie zu konsolidierten Sanierungsfällen gemacht.“
Äh nein. Die Reform verbessert die finanzielle Situation beider Säulen. Es tut mir leid, aber es stimmt einfach nicht. Auch wenn es zehnmal wiederholt wird. Jede*r kann das hier selber nachlesen, Komma für Komma.
„Wären beide wie in unserem Bild zwei börsenkotierte Firmen unter einem gemeinsamen Dach, wären die Folgen dramatisch. Die Schuldenlast stiege und der Aktienkurs bräche ein. Investoren würden in Scharen ihre Titel abstossen, der Kurs würde weiter fallen, und die Kreditaufnahme würde immer teurer. Ein Teufelskreis. Eine solche Firma müsste am Schluss die Bilanz deponieren.“
Wieder falsch. Nehmen wir ein paar börsenkotierte Unternehmen. Fairerweise von den am stärksten gewichteten Firmen im SMI. Zum Beispiel Nestlé mit einer aktuellen Eigenkapitalquote von knapp 50%[5] oder Novartis mit knapp 60%[6]. Demgegenüber stehen die Pensionskassen mit aktuellen Deckungsgraden von im Schnitt 112%. Selbst im dümmsten Szenario könnte die AHV 2035 mit der aktuellen Reform noch 90% der Ausgaben decken – und das noch vor Einrechnung des Kapitalertrages aus dem AHV Fonds. Wären das also zwei Firmen, ginge es Ihnen blendend. Und wie gesagt: Mit der Reform sichert der AHV-Fonds auch 2030 noch 91% der laufenden Ausgaben für ein Jahr.
[1] Alle Zahlen: „Eine starke Altersvorsorge für Jung und Alt„. Broschüre des SGB.
[2] SGB Broschüre S. 9 und BfS
[4] SGB Broschüre, S. 17
[5] http://www.finanzen.net/bilanz_guv/Nestle
[6] http://www.finanzen.net/bilanz_guv/Novartis