Blog: Ein paar ungeordnete Gedanken zu Syriza und Griechenland

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Seit Sonntag ist unter Linken und Nicht-Linken eine heftige Debatte über die griechischen Wahlen entbrannt. Ich habe versucht, dazu einige Gedanken halbwegs zu ordnen. Work in Progress (ja, das heisst es hat Schreib- und Grammatikfehler drin)!

Update 28.1.15: Tsipras ernennt die Menschenrechtsaktivistin Tasia Christodoulopoulou zur Migrationsministerin – ein ermutigendes Zeichen!

Als am Sonntagabend die Ergebnisse der griechischen Wahlen bekannt wurden, ging ein Jubel durch die europäische Linke: Mit einem so deutlichen Sieg der Syriza hatten nur die grössten Optimisten gerechnet. Auch ich habe in einem Gratulationstweet an Alexis Tsipras und Syriza meiner Freude Ausdruck verliehen. Schon wenige Stunden nach der Wahl wurde Tsipras als Premierminister Griechenlands vereidigt – nachdem die rechtspopulistische Partei der Unabhängigen Griechen ihm die Unterstützung für seine Regierung zugesagt hatte. Eine Überraschung oder ein Schock für viele von uns. In die Wahlgratulationen wurde von Journalisten und Bürgerlichen sofort eine Unterstützung der Rechtspopulisten hinein interpretiert. Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Darf man sich als Linke_r trotzdem über den Sieg von Syriza freuen? Ich meine, ja, man darf. Und muss man sich über die Koalition mit den Unabhängigen Griechen empören? Ich meine, man kann. Man sollte aber vor allem zuerst versuchen zu verstehen.

 

Die Situation Griechenlands

Wer Syriza und den Entscheid, die Regierungsverantwortung in äusserst ungünstiger Konstellation zu übernehmen kritisiert, sollte sich Zeit nehmen, sich der realen Situation dieses Landes bewusst zu werden. Griechenland geht es nicht mehr einfach nur „schlecht“, das Land steckt ist in einer humanitären Krise. Fast eine Million Menschen haben seit der Krise ihre Jobs verloren (die tatsächliche Arbeitslosenquote liegt wohl bei 35%), die Jugendarbeitslosigkeit beträgt teilweise über 70%, 75’000 Unternehmen wurden geschlossen, 40% der Arbeitnehmer_innen haben keine Sozialversicherung mehr, ein Drittel der Griecheninnen und Griechen kann sich die Krankenversicherung nicht mehr leisten, ein Viertel der Bevölkerung lebt mit weniger als 500 Euro im Monat, die Einkommen sind seit 2009 um 30% zurück gegangen, über 6 Millionen (sic!) leben an oder unter der Armutsgrenze. Die Menschen sterben inzwischen, weil sie sich nicht mehr behandeln lassen können.

Seit Beginn der Krise flossen hunderten von Milliarden „Hilfszahlungen“ nach Griechenland – gesehen hat davon die Bevölkerung praktisch nichts: 77% der Rettungsgelder gehen direkt in die Taschen der Banken. Die politische und wirtschaftliche Elite Europas rettet nicht Griechenland oder die Griechen, sondern die eigenen Milliarden. So krass und dreist wie in Griechenland wird die Umverteilung von unten nach oben sonst nirgends in Europa betrieben. Die Wut der Menschen ist längst explodiert, faschistische Horden lassen ihre Wut an Asylsuchenden aus. Dass mitten in der Krise die Nazis von Chrisi Avgi regelrecht Schiffbruch erleiden und die Menschen der linken Syriza ihr Vertrauen aussprechen ist keine „Katastrophe“, sondern im Gegenteil eine zivilisatorische Leistungen. Vergessen wir nicht: die vergleichsweise harmlose Krise der Schweiz in den 90er Jahren – nie und nimmer zu vergleichen mit dem sozialen Einschnitt in Griechenland – hat den Wähleranteil der rechtsextremen SVP explodieren lassen. Ich möchte nicht wissen, wie das Schweizer Parlament in der gleichen Situation aussähe…

Kurz: Wir sprechen mit Bezug auf Griechenland nicht von den Lokalwahlen in Oberbümplizbach, wo die Tempo 30-Zone nach einer Einwohnerratswahl vielleicht eingeführt wird oder auch nicht. Wir sprechen von einer Situation in der eine Gesellschaft am Rande des Abgrunds steht. Das sollten wir nicht vergessen, wenn wir uns anmassen, taktische Entscheide griechischer Politiker_innen beurteilen zu wollen.

(Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang einen Verweis auf einen älteren Artikel „Die Griechenland-Lüge„.)

 

Die mediale Propaganda

Auffallend ist, wie gehässig viele – lange nicht alle – Mainstreammedien schon vor dem Wahlgang über Syriza berichteten. Man hätte meinen können, Stalin stehe persönlich vor den Toren Athens. Man gibt sich offenbar viel Mühe, aus Syriza eine Bedrohung für Freiheit und Abendland zu basteln. Dabei schreckt man von wenig zurück: Wenn sich die Vertreter von Syriza zum Beispiel weigern, den Austritt aus dem Euro als alleinstehende Forderung aufzustellen (weil es eben tatsächlich nicht in ihrem Programm steht und unglaublich riskant wäre), dann unterstellt man es ihnen halt einfach, wie zum Beispiel in diesem Artikel. Das absurde an der Debatte: Eine Regierungspartei, die erst 2009 gegründet wurde, die eine dezidierte Alternative vertritt zu allem, was seit 20, 30, 40 Jahren in der griechischen (und europäischen) Politik gemacht wird, wird schon vor ihrem ersten Arbeitstag quasi gleichzeitig vor- und rückwirkend für eine Katastrophe verantwortlich gemacht, die genau das gegenteilige Politikprogramm verursacht hat. Allen ernstes meint die politische Elite in Europa den Griechinnen und Griechen vorschreiben zu dürfen, was sie zu denken und zu wählen haben (zum Beispiel hier). Auch gegen diese autoritäre, fundamental antidemokratische Tendenzen der liberalen und konservativen Mehrheit in Europa ist das Wahlergebnis ein so starkes, wie erfreuliches Zeichen (dagegen kann man zum Beispiel den deutsch-griechischen Appell für eine faire Berichterstattung über die Wahlen in Griechenland unterzeichnen).

Fakt ist: Syriza – oder zumindest die Politik der aktuellen Führung – ist (von mir aus leider) nicht halb so radikal, wie dargestellt. Gerade ihr ökonomisches Programm ist ein Programm des kurzfristig vernünftigen und machbaren. Yanis Varoufakis, der neue Finanzminister (und brillanter Ökonom) sagt in einem Channel 4 Interview klar, was die Prioritäten sind: Bekämpfung der humanitären Krisen, Kampf gegen die Korruption und Steuerfreiheit der Elite, Neuverhandlung des gescheiterten Troika-Plans zur „Rettung“ Griechenlands. Eine kommunistische Revolution klingt meines Erachtens anders. Und genau darin liegt die Perspektive: Syriza verbindet – vorerste einmal rhetorisch – das machbare mit dem wünschbaren und versucht, einen solchen Weg einzuschlagen. Wenn das gelingen sollte, eröffnet sich eine ungemeine Perspektive für die (antikapitalistische) Linke in Europa.

 

Das europäische Signal

Der Sieg von Syriza ist also weder Untergang des Abendlandes, noch das Ende Europas. Sondern vielmehr genau das, wie es mein Freund und Genosse Carlo Sommaruga auf Facebook zusammenfasst: „La victoire de la gauche populaire en Grèce est un signal très fort à toute la gauche européenne mais aussi à l’Europe entière. Un discours clair, remettant en cause la primauté de la finance et du profit du capital, permet de mobiliser sur des valeurs de justice sociale, de solidarité et du bien collectif en répondant concrètement à la frustration et la souffrance populaire. Elle permet de mettre sur les rails un nouveau projet social national et européen au réel bénéfice des femmes et des hommes qui font l’Europe et chaque pays. La Suisse n’y échappera pas.“

[Der Sieg der Linken in Griechenland ist ein starkes Signal an die europäische Linke, aber auch an ganz Europa. Sie hat es mit einer Kampagne, die die soziale Gerechtigkeit, die Solidarität und das Allgemeinwohl ins Zentrum stellt geschafft, den Primat der Finanzmärkte und des Profits des Kapitals in Frage zu stellen und so auf das Leiden und den Frust der Bevölkerung eine Antwort zu geben. Dieser Sieg ist eine Chance für ein neues, soziales, nationalstaatliches und europäisches Projekt für die Menschen, die Europa in jedem seiner Länder ausmachen – auch für die Schweiz]

Wir sollten den Sieg Syrizas zuerst einmal für das nehmen, was er ist: Ein Hoffnungsschimmer in Europa. Dafür steht der Wahlentscheid der Griechinnen und Griechen zuerst einmal.

 

Ein taktisches Dilemma und vor allem: Die Ebenen nicht verwechseln!

Das wichtigste vorne weg: Es ist absolut unfair, diesen demokratischen Aufstand gegen das neoliberale Diktat und das Signal des linken Wahlsieges an Europa mit einem strategischen Beschluss der Parteiführung in einen Topf zu werfen. Das eine hat zuerst einmal nichts mit dem anderen zu tun. Gerade in der Schweiz sollten wir den Unterschied kennen: Zehntausende Leute wählen zum Beispiel alle vier Jahre die SP-Listen – und stimmen bei einzelnen Abstimmung anders als die offizielle Empfehlung der Parteileitung. Deswegen (wegen anderer Gründe schon), hat noch keine_r den Regierungsaustritt der SP verlangt. Und zweitens zeigt die „Empörung“ vor allem, wie undifferenziert hierzulande die Debatte über Griechenland geführt wird. Drei Sekunden googeln über das griechische politische System und ein kurzer Blick auf die Wahlergebnisse würde genügen, um die Alternativlosigkeit für die Syriza-Führung zu erkennen.

Das griechische Wahlsystem sichert dem Wahlsieger 50 zusätzliche Sitze zu (ja, das ist äusserst undemokratisch, dafür kann aber die erst 2009 gegründete Syriza herzlich wenig). Syriza hat damit 149 von 300 Sitzen errungen. Die kommunistische KKE, die sich aus politischen Gründen grundsätzlich jede Regierungsbeteiligung ausschliesst kommt auf 15 Sitze, die Neo-Nazis ebenfalls (zu den Wahlergebnissen). Damit ist eine Regierung ohne Syriza selbst in den kreativsten Varianten rechnerisch gar nicht möglich. Was kann Tsipras also machen? Die Mitte-Links Partei Dimar ist aus dem Parlament gefallen und in der Bedeutungslosigkeit versunken. Dann bleiben als theoretische Koalitionspartner noch die Neonazis von Chrisi Avgi – darüber müssen wir nicht ernsthaft sprechen – und dann nur noch Parteien, die erstens Teil der alten, korrumpierten und völlig diskreditieren Elite sind und die zweitens den Kern des Wahlprogrammes und -erfolges von Syriza – die dringend notwendige Abkehr vom neoliberalen Kurs und die Neuverhandlung der Schuldentilgung – ablehnen. Es bleiben nur noch die 13 Sitze der Unabhängigen Griechen… Kevin Ovenden beschreibt das Dilemma und das taktische Problem auf dem Left Flank-Blog sehr gut, ich muss deshalb hier nicht mehr im Detail darauf eingehen (er ist übrigens ein dezidierter Gegner des Koalitionsentscheids).

Kurz zusammengefasst steht Syriza vor einem doppleten, taktischen Problem: Einerseits wird die Troika alles um die Verhandlungen über ein neues Memorandum zu verhindern – das wird brutalhart. Andererseits wird innenpolitisch der kleine Fehler genutzt werden um Neuwahlen zu fordern. Die Pasok und die anderen Pro-Troika Parteien würden die Verhandlungsposition gegenüber der Troika logischerweise schwächen – abgesehen davon, dass gerade die Pasok kein Interesse hat an einer erfolgreichen Syriza Regierung. Wer die Wahlergebnisse anschaut sieht sehr schnell, dass Syriza hauptsächlich auf Kosten der Pasok Stimmen gewonnen hat.
Die Partei braucht also eine parlamentarische Mehrheit, die ein Abrücken vom Kern des kurzfristigen, unmittelbaren Programms – der neuen Wirtschaftspolitik – unmöglich macht. Nun stellt sich die Frage, ob es eine Alternative zur Koalition mit den Unabhängigen Griechen gegeben hätte. Ja, selbstverständlich. Es ist gemäss griechischer Verfassung auch eine geduldete Minderheitsregierung möglich. Dann wäre Syriza fallweise von der „liberalen“ Mitte oder den Kommunisten der KKE abhängig. Und hier kommt der entscheidende Punkt: Offenbar schätzt die Syriza-Führung diese Variante als gefährlicher an, als die Koalition. Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt. Aber ich bin sehr überrascht, wie in den Kommentarspalten, Chefredaktorkolumnen oder auf Twitter plötzlich offenbar Griechenland-Experten wie Pilze aus dem Boden schiessen, die alles besser beurteilen können als die griechische Linke selber.

Jeder und jede soll von mir aus selber beurteilen, was er oder sie in dieser Situation getan hätte: Die Regierungsbildung wegen zwei fehlenden Sitzen ablehnen und die Verantwortung für die Fortführung der Misere übernehmen aber dafür ideologisch unbefleckt in die Geschichtsbücher eingehen, oder den Preis zahlen und versuchen zu retten, was zu retten ist – und wir sollten nochmals nicht vergessen: Wir sprechend inzwischen in Griechenland nicht über etwas weniger oder etwas mehr Arbeitslosengelder, sondern von Menschenleben. Aber so zu tun, als hätte Tsipras quasi aus der Überfülle von Möglichkeiten freiwillig und boshafterweise extra (weil er uns alle verärgern wollte wahrscheinlich) die dümmste Variante gewählt, wird der Situation definitiv nicht gerecht. Ist jetzt also der Entscheid der Syriza-Führung richtig oder falsch? Die Kommunikationsexperten kriegen jetzt dann gleich Schübe, weil ich etwas sagen werde, das man als Politiker gemäss allen sehr schauen Kommunikationshandbüchern und -seminaren nie und nimmer sagen sollte: Ich weiss es nicht (eigentlich ist das Gegenteil der Fall: Wir sollten viel öfter zugeben, dass wir genauso wenig Ahnung haben wie alle anderen auch). Aber ich glaube, wir sollten Syriza an den Ergebnissen messen: Wenn die Partei ein umfassendes Programm für Freiheit, Demokratie und Solidarität – also auch z.B. auch Rechte für Migranten oder LGBT – durchsetzen kann, dann kann man den Entscheid akzeptieren. Wenn nicht, dann nicht.

Ein letztes Wort noch dazu: Selbstverständlich muss der Aufstieg des Nationalismus und des Rechtspopulismus überall verhindert werden. Nur scheint es mir aus einer „Schweizer Perspektive“ relativ absurd, gegen die Regierungsbeteiligung der extremen Rechten und der Nationalisten zu argumentieren: Die Regierungsbeteiligung der neuen Rechte wurde quasi hierzulande erfunden. Die SVP ist politisch und strategisch seit den 1990er eines der zentralen Vorbilder der neuen, rechtsextremen und gleichzeitig neoliberalen Parteien in Europa. Die Schweiz und kein anderes Land (Österreich zum Beispiel hat das Experiment längst beendet), ist leider der lebendige Beweis für die „Regierungsfähigkeit“ der neoliberalen Rechtsextremen. Wir sollten alle, ich natürlich inklusive, also vielleicht in Zukunft a) etwas mehr denken vor dem empören und b) zuerst vor der eigenen Haustüre kehren, bevor wir mit dem Finger auf andere zeigen.

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