Heute Nachmittag hätte die Ecopop-Initiative im Nationalrat debattiert werden sollen. Eine Mehrheit des Parlaments hat allerdings entschieden die Diskussionszeit dramatisch zu beschränken. Deshalb verzichte ich auf einen Redebeitrag und haue dafür spontan einige grundsätzliche Überlegungen zu Migration, Armut und Ökologie in die Tasten. Der Text hat überhaupt keinen Anspruch auf Vollständigkeit – es war mir nur Anliegen, einige Gedanken zu formulieren, die mir in dieser Debatte leider auch von links oft unter zu gehen scheinen.
Die Ecopop-Initiative besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil fordert die Begrenzung der Nettozuwanderung auf 0.2% der ständigen Wohnbevölkerung. Der zweite Teil verlangt die Zuteilung von 10% der Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit für Massnahmen der freiwilligen Familienplanung. Beginnen wir hinten.
Wessen Geistes Kind: Die malthusianische Bevölkerungstheorie
Die Vorstellung, man bekämpfe die Armut in den Ländern der Dritten Welt am effektivsten durch die freiwillige Familienplanung geht ideengeschichtlich auf die malthusianische Bevölkerungstheorie zurück, besser bekannt als die malthusianische Bevölkerungsfalle. Thomas Robert Malthus behauptete Ende des 18. Jahrhunderts, das wesentliche Problem der Armut liege in der Bevölkerungsentwicklung. Malthus postulierte, dass die natürliche Rate des Bevölkerungswachstums immer über dem Produktivitätsfortschritt der Landwirtschaft liege. Dadurch entstehe ein natürliches Bevölkerungsgleichgewicht: Gibt es weniger Menschen als die Landwirtschaft ernähren kann, wächst die Bevölkerung. Wächst die Bevölkerung aber über das Gleichgewicht hinaus, kommt es zu einer Nahrungsmittelknappheit und schliesslich zum Hungertod der „Überschüssigen“. Malthus hält sein „Gesetz“ allerdings nicht für problematisch, sondern vielmehr für einen Segen. So reguliere sich das Armutsproblem quasi von selber. Er lehnt deshalb jeglichen sozialstaatlichen Eingriff, ja sogar die karitative Armenfürsorge fundamental ab und plädiert stattdessen für Tugend und Enthaltsamkeit (Abtreibung und Verhütung sind für Malthus eine Sünde). Malthus erkennt übrigens, dass eine prekarisierte Bevölkerung niemals in der Lage sein wird, die wirtschaftliche Überproduktion zu absorbieren. Er begrüsst deshalb explizit die Existenz einer Klasse von Noblen, die hauptsächlich damit beschäftigt ist, die Überschussproduktion zu konsumieren (1). Wem das nun bekannt vorkommt, der oder die irrt sich nicht: Tatsächlich haben Malthus’ Noble eine verdächtige Ähnlichkeit zu den modernen „Leistungsträger_innen“, die in den feuchten Träumen der neoliberalen Ökonom_innen mit ihrem Luxuskonsum das Problem der Überakkumulation lösen. Auch die Vorstellung von ökonomischen „Gleichgewichten“ und daraus abgeleitete, scheinbare „Naturgesetze“ sind auch heute wieder äusserst populär.
Ein Segen für die Herrschenden: Die Armut ist das Problem der Armen!
Leider passt später kein geringerer als der Antimarxist Ferdinand Lassalle (1825-1864), vermeintlicher Gründer der deutschen Sozialdemokratie, Malthus’ Theorie auf das sich bildende Industrieproletariat in den Städten an. Lassalles „ehernes Lohngesetz“ (10 Jahre nach Lassalles Tod im Gothaer Programm von 1875 zur offiziellen Doktrin der Sozialdemokratie erhoben) besagt, dass sich der Lohn des Arbeiters immer nur auf dem Niveau des Existenzminimums bewegen könne. Dies ist im wesentlichen eine Absage an die Idee, soziale Kräfteverhältnisse könnten auch innerhalb des Kapitalismus verschoben werden und bedeutet vor allem eine Abkehr von der gewerkschaftlichen Organisationsarbeit zugunsten eines reinen Parlamentarismus. Der liberale Ökonom David Riccardo bemerkte richtigerweise, dass malthusianische (und eben auch neo-malthusianische) Vorstellungen vor allem eines sind, nämlich ein Segen für die Reichen und Mächtigen, weil sie das Problem der Armut zum Problem der Armen machen.
Genau gleich verhält es sich mit der Ecopop-Initiative. Nehmen wir das Beispiel des Kleinbauers in Westafrika, der auf Grund aggressiven „Landgrabbings“ europäischer, amerikanischer oder von mir aus chinesischer Konzerne sein Land verliert. Die Ecopop-Initiative antwortet ihm, er müsse das Problem dann halt über eine vernünftigere Familienplanung lösen, die dem neuen Gleichgewicht angemessen sei. Den Gipfel des Zynismus erreicht diese Argumentation, wenn wir bedenken, dass unsere heutige Landwirtschaft gemäss Berechnungen der FAO 12 Milliarden Menschen ernähren könnte. Das Armutsproblem ist also objektiv ein Problem der Verteilung. Im Klartext: Eine Milliarde Menschen leidet auf diesem Planeten an Hunger, weil die politische Mehrheit im reichen Norden keine Lust hat, sich dieses Problems ernsthaft anzunehmen. Und wenn sich der Bauer dann entschliesst dem Elend zu entfliegen und ins reiche Europa auszuwandern, dass ihm in 500 Jahren Kolonialgeschichte die Existenzgrundlage gründlich zerstört hat und weiter zerstört, knallt ihm die Ecopop-Initiative auch gleich noch die Türe vor der Nase zu: „Sorry, aber das Boot ist voll.“ Schamlose und perfide Politik im Interesse des internationalen Kapitals und zur vollständigen Verantwortungsentlastung der Multis zu machen und sie dann noch in ein scheinbar ökologisches Gewand zu kleiden, hat sich wahrlich noch nie jemand getraut. Die Freisinnigen und die SVP erblassen wahrscheinlich vor Neid.
Ecology? It’s a class question, stupid!
Ähnlich argumentiert Ecopop, wenn es um die Verantwortung für die ökologische Katastrophe auf unserem Planeten geht. Und darum geht es den Initiant_innen ja scheinbar. Sie argumentieren, das ökologische Problem sei eben vor allem ein Problem des pro Kopf Verbrauches und damit des Bevölkerungswachstums. Damit legitimieren sie die Bevölkerungsbeschränkung sowohl in der Schweiz als eben auch in den Entwicklungsländern. Was bewusst oder aus politischer Naivität ausgeblendet wird: Gerade die ökologische Frage ist vor allem eine Klassenfrage. Simpel formuliert: Der „ökologisches Fussabdruck “ eines Schreiners in Burkina Faso ist um ein vielfaches kleiner, als jener eines Mitglieds des selben Berufsstandes in der Schweiz. Ersterer fährt kein Auto, fliegt nicht in die Ferien und verbraucht unter Umständen nicht einmal fossilen Strom. Und der ökologische Fussabdruck des Schreiners in der Schweiz ist wiederum um ein vielfaches kleiner als jener des internationalen Managers, der zwischen seiner mehreren hundert Quadratmeter grossen Villa am Zürisee und dem Flat in London hin und her pendelt, in den Ferien zum Heliskiing nach Kanada reist und sich aus arbeitsökonomischen Gründen grundsätzlich nur im Dienstwagen bewegt. Nicht nur ihr ökologischer Fussabdruck ist unterschiedlich gross, auch ihre jeweiligen Möglichkeiten, ihr individuelles Verhalten tatsächlich zu ändern, ohne dabei ihre eigene Existenz zu gefährden. Ecopop argumentiert jetzt aber mit Durchschnittswerten und verteilt damit die Verantwortung für Ursachen und Lösung des ökologischen Problems gleichmässig auf alle Menschen. Ein Hohn und eine Absurdität sondergleichen. Es ist wohl kein Zufall, dass, wie die WOZ recherchierte, gleich mehrere Mitglieder des Initiativkomitees einen Lebensstil und Landverbrauch aufweisen, der weit über den Durchschnitt und dem ökologisch vernünftigen liegt. Wasser predigen, Wein trinken und die Verantwortung auf die Allgemeinheit abschieden. Schöne Ökolog_innen. Wie sagte schon der amerikansiche Präsident Bill Clinton? It’s the economy, stupid! Angepasst würde das heute lauten: It’s a class question, stupid! Die Lösung der ökologischen Frage wird ganz massiv davon abhängen, ob sich die Menschen in- und ausserhalb der Schweiz eine individuelle Verhaltensänderung leisten können oder nicht. Wer eine ökologische Revolution will, muss deshalb unbedingt auch eine massive Rückverteilung der Vermögen und Einkommen anstreben.
Wer darf eigentlich Grenzen schliessen?
Ein drittes Problem betrifft die Ecopop-Initiative nicht alleine, sondern alle politischen Vorstösse, die eine Begrenzung der Zuwanderung – oder überhaupt Zuwanderungsregeln – verlangen. Es scheint im politischen Mainstream völlig unbestritten, dass ein Land wie die Schweiz das Recht hat, die Zuwanderung praktisch nach Belieben zu steuern. In der Regel wird (auch von links), so geschehen bei der Masseneinwanderungsinitiative, nicht angezweifelt ob eine solche Politik an sich zulässig ist, sondern nur darüber debattiert, welche Folgen sie allenfalls haben könnte. Dabei ist diese Selbstverständlichkeit der nationalen und einseitigen Steuerung von Immigration gar nicht einfach so einleuchtend, wenn wir einmal einen halben Schritt Abstand nehmen. Sie lässt sich nämlich weder politisch noch moralisch oder praktisch zweifelsfrei begründen.
Eine Demokratie für alle
Wenn wir den Begriff der Demokratie beim Wort nehmen, dann handelt es sich dabei um einen Staatsform, in der die von politischen Entscheiden direkt Betroffenen mitentscheiden können, was mit ihm ihnen geschieht. Gerade in der Migrationspolitik wird dieser Grundsatz allerdings in krasser Weise verletzt. Diejenigen, die migrieren, die Migrantinnen und Migranten (oder zumindest ihre politischen Vertreter_innen) werden nämlich gar nicht gefragt, welche Migrationsregeln gelten sollen. Und dabei ist das gar keine so theoretische Frage. Umgekehrt finden wir reichen Nordländer_innen es nämlich selbstverständlich, dass wir beispielsweise bei Investitionsschutzgesetzen oder bei der Regulierung der Rohstoffbranchen in den Ländern der Dritten Welt mitreden können, oder, dass zumindest die Anliegen unserer Industrie miteinbezogen werden. Internationale Handelsregeln legen wir beispielsweise auf internationaler Eben in bi- und multilateralen Verträgen fest. In der Migrationspolitik ist dies umgekehrt kein Thema.
Von einem moralischen Standpunkt aus ist die einseitige Beschränkung der Migration sowieso äusserst fragwürdig. Schliesslich fallen moderne Migrationsbewegungen nicht vom Himmel, sondern sie sind die Folge von 500 Jahren imperialistisch-militärischer und fortwährender ökonomischer Ausbeutung der Länder des Südens durch Europa, die USA und zunehmend auch China. Und daran hat die Schweiz immer auch saftig mitverdient: Vom Sklavenhandel, über das Bankgeheimnis bis zu den grossen Rohstoffkonzernen unserer Zeit. Und hier knüpft der vielleicht wichtigste Punkt an. Vielleicht wäre es einmal an der Zeit, auch den Menschen in der Schweiz nicht länger Sand in die Augen zu streuen und klipp und klar zu sagen: Das, was ihr Migrations“problem“ nennt, ist schlicht und ergreifend nicht lösbar. Punkt. Wir haben dutzende Asylgesetzrevision verabschiedet und es hat sich nichts geändert. Wir können genauso dutzende Ecopop-Initiative annehmen und es ändert sich nichts. Wer nur einen kurzen Blick auf die Südgrenzen Europas wirft, sieht auch warum: Obwohl inzwischen fast täglich dutzende bis hunderte Menschen bei der Überfahrt im Mittelmeer elendiglich verrecken (sorry, aber man kanns nicht anders sagen) – seit dem Jahr 2000 schätzungsweise 23’000 Personen – obwohl Europa seine Grenzen mit Mauern, Grenzzäunen und der Frontex-Polizei inzwischen zu einer kolonialen Festung ausgebaut hat, kommen die Menschen weiter. Und sie werden auch dann noch kommen, wenn man eines Tages auf sie schiessen sollte. Solange wir es zulassen, dass eine Milliarde Menschen an Hunger leidet, dass 2,5 Milliarden keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, dass 43 Millionen auf der Flucht sind, dass an über 300 Orten der Welt bewaffnete Konflikte herrschen, so lange werden die Menschen fliehen. Jeder Zivilschutzbunker auf dem Jaunpass ist eine bessere Perspektive als das Elend in ihren Herkunftsländern. Wir würden gut daran tun, Migration so schnell wie möglich nicht mehr als Problem zu begreifen, sondern als Grundkonstante gesellschaftlicher Realität im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts. Gerade die Geschichte der Migration in der Schweiz zeigt: Wir entscheiden nicht darüber, ob die Menschen kommen oder nicht, sondern nur darüber, ob sie legal oder illegal kommen, ob sie rechtlos sind oder Rechte haben.
… und zum Schluss eine Bitte an Rot-Grün: Migration ist ein Menschenrecht!
Obwohl dieser Text bereits länger geworden ist, als ich vorhatte, erlaubt mir bitte noch eine letzte Bemerkung. Eine an meine eigenen Leute, an Rot-Grün. Bitte, bitte, bitte hört endlich auf in migrationspolitischen Debatten immer nur zu betonen, wie volkswirtschaftlich sinnvoll oder nicht sinnvoll diese oder jene Massnahme ist. Solange der globale Kapitalismus im egoistischen Interesse der bequemen Mehrheit im Norden die Lebensgrundlagen der Menschen zerstört, ist die Flucht vor diesem Elend, ist Migration ein Menschenrecht. Eine der ersten Erklärungen der modernen Menschenrechte, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, hält dieses Recht in der vielleicht schönsten Formulierung fest: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal […] that among these [unalienable Rights] are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“ Und solange mir niemand beweisen kann, dass er oder sie den Ort seiner oder ihrer Geburt tatsächlich selbst gewählt hat, solange gibt es keinen einsichtigen Grund, warum Menschen aus Marokko, dem Sudan oder Südostasien nicht den gleichen Anspruch auf die Ressourcen des Planeten oder den Wohlstand in Europa haben sollten wie ich. Keinen. Dafür müssen sie uns nichts nutzen und nichts bringen. Dafür müssen wir sie nur als Mitmenschen begreifen.
(1) Robert Thomas Malthus, An Essay on the Principle of Population, 1798.
—-
Dieser Text ist im Stimmengewirr von 199 Mit-Nationalrät_innen um den Debattenmodus zur Ecopop-Initiative entstanden. Man verzeihe mir die eine oder andere sprachliche Holprigkeit.