Am 4. Februar durfte ich zum Abschluss des Kongresses „Reclaim Democracy“ an einer Diskussion zu linken Strategien teilnehmen. Jodi Dean argumentierte in ihrer Keynote gegen die „Demokratie“ als Titel für ein linkes Projekt. Stattdessen plädiert Sie für ein Revival des Begriffs des „Kommunismus“. Ich verzichte hier auf eine Aufliste von Deans Argumentation. Einerseits weil man den Keynote-Speech hier nachschauen kann und andererseits, weil ich im nachfolgenden in meiner Antwort vor allem kurz skizzieren möchte, warum sich meine Generation von Sozialist_innen und Sozialdemokrat_innen – die sich durchaus als Antikapitalist_innen verstehen – sehr intensiv mit dem Begriff der Demokratie beschäftigt.
Vorbemerkung I: Diese kurze Notiz fusst auf dem, was ich auf diesem Podium in fünf Minuten entwickeln und anschliessend noch entziffern konnte. Nicht weniger, nicht mehr. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Vorbemerkung II: Es geht hier nicht um eine Debatte um das Konzept der radikalen Demokratie (Laclau/Mouffe). Darüber ist die Linke hoffentlich schon hinweg. Hier geht es um die Frage, welche Begrifflichkeit verschiedene linke Kämpfe zu vereinen im Stande sein könnte. Da scheint mir Demokratie nach wie vor eine starke Variante.
- Wenn wir von Demokratie sprechen, meinen wir mehr als das bürgerlich-liberale Demokratieverständnis. Dieses meint mit Demokratie vor allem einen formalen Prozess, streng begrenzt auf die Entscheidungen innerhalb der politischen Institutionen. Die bürgerliche Demokratie bleibt, da sind wir uns einig, eine Protodemokratie, die immer sowohl bestimmte Gruppen der Gesellschaft als auch weite Bereiche der gesellschaftlichen Verhältnisse von demokratischer Kontrolle ausschliesst. Im Kern ist diese bürgerliche Demokratie natürlich ein Herrschaftskonzept (bleibt mir jetzt hier nicht Zeit für die Ausführung, ist auf der To-Do-Liste notiert). Vor allem natürlich den Bereich, den wir (komischerweise, aber das ist ein anderes Thema) Wirtschaft nennen. Mein oder unser Demokratiebegriff geht darüber hinaus. Es geht um eine substantielle Demokratie. Das heisst der Begriff verweist neben dem Prozess mindestens auf zwei weitere Punkte:
- Demokratie ist überall und immer oder sie ist nicht. Es gibt keine Demokratie beschränkt auf politische Institutionen. Sprechen wir von Demokratie, erheben wir den Anspruch auf die Demokratisierung aller Lebensbereiche. Damit verweist der Begriff selbstverständlich auf eine post-kapitalistische Zukunft.
- Demokratie kann nur substantiell sein. Selbstverständlich verweist der Begriff neben dem Prozess auf eine ständig zu erweiternde Liste individueller und kollektiver Rechte. Demokratisch ist nicht einfach, was eine Mehrheit entscheidet, sondern was der Freiheit und Emanzipation dient.
- Der Begriff der Demokratie vermeidet nicht, wie Dean kritisiert, die Benennung von Antagonismen. Aber er hat mich und uns aus dogmatischen und sektiererischen Perspektiven befreit. Er erlaubt es uns, die bekloppten Debatten über Haupt- und Nebenwidersprüche ad acta zu legen, ohne den Anspruch auf Macht- und Herrschaftskritik abzulegen. Vielmehr erlaubt es „Demokratie“, verschiedene Machtverhältnisse wie Rasse, Klasse, Gender oder ökologische Ausbeutung als gleichursprünglich zu verstehen (d.h. sie sind nicht zu trennen und keines kommt vor dem anderen). Und er kann uns davor bewahren, die Kämpfe wieder zu trennen und stattdessen nach einer Strategie der „convergences des luttes“ zu suchen. In diesem Sinne verweist er auf das Verständnis der kapitalistischen Machtverhältnisse als Moment kultureller Hegemonie, das es in seiner Multidimensionalität und Widersprüchlichkeit zu verstehen gilt.
- Demokratie verweist auf das Konzept eines im positiven Sinne liberalen, offenen Sozialismus. Sowohl im Sinne seiner inhaltlichen Ausrichtung als auch eines Selbsteingeständnisses: Offen, weil wir in einer Zeit der ideologischen Verwirrung stecken und dies eingestehen. Wir sind (noch) keine Bewegung mit einem gemeinsamen Programm, aber wir suchen gemeinsam danach. Zweitens verweist der Begriff auf einen Pluralismus der Formen politischer Kämpfe. Wir sind sowohl parlamentarisch unterwegs, wie auch bewegungspolitisch. In Idomeni, wie bei Occuppy, wie im Bundeshaus. Wir wollen diese Aktionsformen nicht als gegensätzlich verstehen, sondern als Teil einer gemeinsamen Suchbewegung verstehen (auf der Suche nach dem post-kapitalistischen Inhalt und der effektiven Form). Irgendwo zwischen bewegungspolitische Beliebigkeit und avantgardistischen Hierarchien. In diesem Sinne ist der Begriff der Demokratie, wie wir ihn verstehen auch mit einem zweiten Einverständnis verbunden, das man erwähnen muss. Dem Bewusstsein für die Krise der repräsentativen Demokratie. Sie hat nicht nur die Linke in eine Sackgasse geführt, sondern auch unserer Gesellschaften. Die Linke kann sich nicht mehr einfach auf die Methoden der parlamentarischen Demokratie stützen.
- Der Begriff der „Demokratie“ oder eben „Reclaim Democracy“ ist in der ganz konkreten, aktuellen Situation für sehr viele Menschen über die eigentliche Linke hinaus sehr anschlussfähig. Der Aufstieg der neuen Rechten bedroht schon die Freiheitsrechte, die im Rahmen der kapitalistischen Protodemokratien erkämpft wurden. Es ist ein Begriff in dessen Rahmen z.B. der Widerstand kirchlicher Kreise gegen das unmenschliche Asylregime anschlussfähig an ein linkes Projekt werden kann. Im Vergleich zu Deans Vorschlag – das Projekt wieder „Kommunismus“ zu nennen – scheint mir Demokratie schlicht „more appealing to more people in less time“.
- Der Begriff der Demokratie verweist für mich auch auf ein Verständnis politischer Strategie jenseits der Debatte um Reform und Revolution. Dean kritisiert, der Begriff verschleiere den Umstand, dass sich durch nette, demokratische Reform alleine der Kapitalismus nicht brechen liesse. Mag sein. Mir scheint das Projekt der Transformationslinken weist in die richtige Richtung (ich habe das mit Pascal Zwicky hier schon einmal versucht etwas auszuführen). Es geht darum, mittels sog. radikaler Reformen den Rahmen des politisch denk- und machbaren Schritt um Schritt zu erweitern und einzunehmen. Er verweist – ja, und das ist in klarer Abgrenzung von „revolutionären“ Konzepten, wie sie Dean vertritt – auf die Notwendigkeit die Spielräume für solidarische Praxis und Alternativen zu nutzen. Z.B. durch die Förderung demokratischer Wirtschaftsformen im hier und jetzt. Ich glaube, wieder im Unterschied zu Dean, dass das nicht einfach machtlose Placebos sind, sondern die konkrete Erfahrung eines solidarischen Miteinanders ganz zentral ist für die Denkbarkeit postkapitalistischer Alternative (wen diese Debatte interessiert, der sei z.B. auf Erik Olin Wright verwiesen. Im Jacobin-Magazine liefert sich Wright mit Dylan Riley eine spannende Debatte zum Sinn und Unsinn solidarischer Projekte im kapitalistischen jetzt). Das alles ohne sich Illusionen bezüglich der Beharrungskräfte von Staat und Kapital zu machen. Der Sozialismus wird nicht durch Vorstösse im Parlament kommen. Ein paar Streiks wird’s schon brauchen um das mal so zu formulieren.
- Letztlich glaube ich ist der Begriff der Demokratie von links ohne einen echten Internationalismus nicht denkbar. Demokratie verweist auf den „demos“, also auf all’ jene, die von Herrschaft betroffen sind. Nimmt die Linke vor allem im globalen Norden das ernst, kann sie nicht weitermachen wie bisher. Schliesslich sind Millionen Menschen von Entscheidungen und Politik betroffen, die hier kein Stimmrecht haben. Zum Beispiel die aktuelle Unternehmenssteuerreform III. An sich müsste man diese Vorlage mit all’ jenen aushandeln, die dort wohnen, wo Schweizer Firmen Kapital abziehen oder deren Steuersubstrat durch die Tiefsteuerpolitik der Schweiz vernichtet wird. Da es wohl noch einen Moment dauert, bis wir über solche internationalen Institutionen verfügen, muss die Linke diese Verbindung herstellen und Anwalt sein der von Schweizer Kapital, resp. dem globalen Kapital als Klasse, Entrechteten. Das heisst aber, dass wir z.B. die Basisbewegungen gegen die Praktiken von Glencore in Peru in unsere Politikformulierung einbeziehen müssen. Ganz real, nicht einfach ein paar Pressecommuniqués auf Facebook liken. Und das rüttelt an den Grundfesten einer Sozialdemokratie, die den Standortwettbewerb als gegeben akzeptiert hat.