Europa retten: Rot-Rot-Grüne Mehrheit nutzen!

linkeDie Schweiz ist kein formelles Mitglied der EU. Mehrmals hat der Souverän den Beitritt zur Union und zum EWR in Abstimmungen verworfen. Die Dynamik der Rechtsentwicklung auf europäischer Ebene stellt die Schweiz aber vor Probleme. Die starren „bilateralen Verträge“ können nicht schnell genug an die Veränderungen der EU angepasst werden. Deshalb verhandelt die Regierung über eine Lösung der „institutionellen Frage“.

Die extreme Rechte unter ihrem Anführer Christoph Blocher nimmt dies zum Anlass, die bevorstehenden Volksabstimmungen zu einem Entscheid „für oder gegen Europa“ hochzustilisieren. Diese zweidimensionale Debatte „für oder gegen Europa“ ist allerdings von der Realität überholt. Die Frage „Europa oder nicht Europa?“ stellt sich längst nicht mehr. Europa wird gebaut, so oder so. Wir stehen aber an einem Scheideweg: Welches Europa wollen wir? Entweder ist es das Europa der Banken und Finanzoligarchen, oder es ist das demokratische Europa der Menschen. Als-Nichtmitgliedsland kann man dieser Täuschung noch schnell unterliegen. Umso erstaunlicher ist es, dass die gleiche Debatte auch in Deutschland geführt wird. Die deutsche SPD hat sich im Wahlkampf grausam empört, als ihr von Kanzlerin Merkel „europapolitische Unzuverlässigkeit“ vorgeworfen wurde. Der Fraktionsvorsitzende Steinmeiner nannte die Aussage eine „Sauerei“. Der Punkt ist: Merkel hat Recht. Nur im genau umgekehrten Sinn, als sie und die SPD meinen. Europapolitisch unzuverlässig und verantwortungslos ist genau die von der Kanzlerin wesentlich geprägte Europapolitik der Troika IWF, Weltbank, EU. Und verantwortungslos ist es, dieser Politik ein Plazet auszusprechen.

Das Europa der Menschen oder der Finanzmärkte?

Die aktuelle Rettungspolitik baut das Europa der Banken und Finanzoligarchen zu Lasten des Europas der Menschen weiter aus. Die Rettungspakete und –schirme, die Strukturmassnahmen und die „Hilfe“ für Griechenland sind vor allem ein gigantisches Umverteilungsprojekt von der Peripherie ins Zentrum und von unten nach oben. Die globalisierungskritische Organisation attac hat nachgerechnet: Laut dieser Studie landeten gut ¾ der so genannten Hilfe für Griechenland in Tat und Wahrheit bei Banken und vermögenden Gläubigern. Fast 30% der Gelder wurden für die Rekapitalisierung der griechischen Banken verwendet. Gut 50% flossen direkt in die Taschen der Gläubiger des griechischen States. Und nur etwas über 20% der Hilfen landeten tatsächlich im griechischen Staatshaushalt.

Bezahlt wird diese „Rettung“ einerseits von den deutschen (und anderen) Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen und andererseits vor allem von den Griechinnen und Griechen selber. Das griechische Volk wird durch die regelrechte Pulverisierung des Sozialstaates und den Ausverkauf staatlicher Betriebe schrittweise enteignet. Mit verheerenden Folgen: Offiziell sind im August 2013 27% der Griechinnen und Griechen arbeitslos. Unter den Jugendlichen sind es 62%. Das reale Einkommen des durchschnittlichen griechischen Haushaltes ging seit 2009 um 40% zurück. 3.4 Millionen Griechinnen und Griechen sind heute armutsgefährdet, 40% von ihnen ist bereits ohne Krankenkasse. Im Vergleich zu 2008 hat sich die Suizidrate inzwischen mehr als verdreifacht. Und die Perspektiven für die meisten sind katastrophal: Die Preise und die Steuern dürften weiter steigen, die Löhne, die Renten und die Chancen auf Arbeit weiter sinken.

Europapolitische Verantwortung übernehmen

Es grenzt an ein zumindest kleineres Wunder, dass in Griechenland noch nicht geschossen wird – und in den anderen Krisenstaaten im Süden des Kontinents sieht es nur wenig besser aus. Die eigentliche Gefahr für Europa ist das aktuelle Krisenmanagement der Troika, diese Mischung aus ökonomischen Dilettantismus und knallharter Interessenpolitik. Wer Europa retten will, muss ziemlich genau das Gegenteil von dem tun, was heute getan wird: Ein europaweites Investitionsprogramm, finanziert durch eine materielle Harmonisierung der Besteuerung von Unternehmen und grossen Vermögen, statt Austerität. Eine deutlich strengere Regulierung der Finanzmärkte und vor allem der Finanzprodukte, nicht nur eine Bankenunion. Eine grundlegende Reform der Europäischen Zentralbank, damit diese in Zukunft die Staaten direkt unterstützen kann. Eine Koordination der Wirtschafts- und Sozialpolitiken, insbesondere ein Lohnwachstum in Deutschland, das wieder mit der Produktivitätsentwicklung mithält. Nur so können die Binnenkaufkraft gestärkt und die Leistungsbilanzungleichgewichte in Europa abgebaut werden. Und zu guter letzt: Einen Schuldenschnitt für die betroffenen Länder, damit der Abbau der Sozialstaaten nicht noch weitergeht und eine gemeinsame Bürgschaft für Staatsschulden in der Zukunft.

Dieses Programm ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was die Regierungsversprechen der CDU beinhalten. Aber es ist weitgehend die Schnittmenge der Wirtschaftsprogramme von SPD, Grünen und Linken. Und es gibt dafür nach der Wahl vom 22. September sogar eine Mehrheit im Bundestag. Dann nämlich, wenn man die 319 Mandate von SPD, Grünen und Linken zusammenzählt (CDU: 311). Der Koalitionsentscheid in Deutschland wird für Europa wegweisend. Die Position der deutschen Regierung wird das Gesicht Europas massgeblich prägen, wenn nicht sogar entscheiden. Deutschlands aktuelle Position im europäischen Machtgefüge bringt eine enorme Verantwortung für den gesamten Kontinent mit sich. Merkel und ihre CDU sind ökonomisch unfähig und politisch unwillig, diese Verantwortung wahrzunehmen. Jetzt würde eine Mehrheit von acht Stimmen für eine links-grüne Achse Berlin-Paris reichen, die die Kraft hätte, die Politik der Troika grundlegend zu verändern. Bei der gegenwärtigen Entwicklung in den Ländern des Südens haben wir nicht mehr viel Zeit. Dass diese Chance nach dem aktuellen Stand der Dinge an einer absurden Phobie der SPD-Führung vor ein paar westdeutschen Linken scheitert, ist absurd. Europapolitisch viel verantwortungsloser, als diese gewiss nicht einfache Einigung zumindest zu versuchen, wäre es, sich für das Europa der Banken und Finanzoligarchen zu entscheiden. Und genau das tut die SPD, wenn sie Merkel den Kanzlerstuhl nochmals vier Jahre überlässt.

Dieser Artikel ist am 2. Oktober 2013 in „Die Zeit“ erschienen. René Zeller hat auf NZZ-Online auf diesen Beitrag reagiert.

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