Die Debatte um die so genannte Selbstbestimmungsinitiative ist im vollen Gange. Seit einigen Tagen streiten Befürworter*innen und Gegner*innen heftig über die genauen Konsequenzen einer Annahme. Die SVP wirft dem Nein-Lager Panikmache vor (was ja an sich schon historisch-ironischen Wert hat), die Gegner*innen der Initiative warnen vor einer Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Was also ist Sache?
Nun, die Sache ist noch komplexer. Tatsächlich sind zwei Dinge klar: Die Lancierung der Selbstbestimmungsinitiative ist tatsächlich eine Reaktion auf Entscheide des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (Hans Ueli Vogt bestätigt den Umstand in diesem neusten Interview erneut). Auch hat die SVP zahlreiche Vorstösse zur Kündigung oder Einschränkung der Konvention eingereicht, BR Ueli Maurer hat 2014 sogar den Antrag auf Austritt der Schweiz in der Landesregierung gestellt. An der Absicht der Initiant*innen besteht also kein Zweifel.
Richtig ist aber auch, dass die Initiative – formaluristisch betrachtet – keine automatische Kündigung vorsieht. Der Text lautet wörtlich im neuen Art. 56a Abs. 2: „Im Fall eines Widerspruchs [zwischen völkerrechtlichen Verpflichtungen und der Bundesverfassung] sorgen sie [Bund und Kantone] für eine Anpassung der völkerrechtlichen Verpflichtungen an die Vorgaben der Bundesverfassung, nötigenfalls durch Kündigung der betreffenden völkerrechtlichen Verträge.“ Wann also genau die Bedingungen zur Kündigung gegeben wären, ist tatsächlich Auslegungssache (wann ist „nötigenfalls“ erreicht?). Klar ist damit auch, bei einer Annahme würde ein jahrelanger Streit darüber entbrennen (nicht nur in Sachen EMRK), welche Schritte jetzt genau von wem zu unternehmen seien.
Viele Kommentator*innen aus dem Nein-Lager halten das für – wieder einmal – einen nicht fertig gedachte, schlampig redigierten Passus in einer SVP-Initative. Ich glaube, das ist eine Fehleinschätzung. Tatsächlich ist das Vorstossen in die Wischi-Waschi-Zone kalkulierte Absicht. Die Schaffung einer unklaren Situation zwischen Bundesrat, Parlament, Bundesgericht und Europäischem Gerichtshof passt genau in die Strategie der Rechtsnationalisten: Egal was passiert, man kann immer behaupten, die Institutionen würden den Volkswillen nicht umsetzen. Wird nicht gekündigt, sind Bundesrat und/oder Parlament schuld. Wird gekündigt mit negativen Folgen haben Bundesrat und/oder Parlament schlecht verhandelt und legiferiert. Die SVP kriegt Figgi-Müli, die Kampagne gegen den liberalen Staat und die Institutionen der repräsentativen Demokratie wird zum Perpettuum mobile. Auch darum ist es falsch zu glauben, die Initative richte sich primär gegen die „fremden Richter“. Sie reiht sich vielmehr ein in die Kampagne gegen unsere nationalen Institutionen.
Damit dieses Spiel in Zukunft nicht mehr so einfach geht, habe ich übrigens einen Vorstoss eingereicht. Er verlangt, dass in Zukunft Volksinitiativen zwar weiterhin alles fordern können, dass die Kündigung von völkerrechtlichen Verträgen zur Umsetzung allerdings nur noch in Betracht gezogen wird, wenn das der Text explizit vorsieht.