Homo oeconomicus debunked: Rede zur Diplomfeier der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik

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Politisch bin in der Diziplin der Sonder- und Heilpädagogik wenig überraschend vor allem im Rahmen von Auseinandersetzungen über Budgetbeschlüsse begegnet. Die andere Seite hat dann meistens – immer, wenn es um im weiteren Sinne pädadogische Aufgaben des Staates ging – argumentiert, Kinder bekommen und erziehen sei primär eine Verantwortung der Eltern. Damit müsse sich das Angebot des Staates auch auf ein Minimum beschränken. Meine Seite hat dann immer mit dem Argument entgegnet, dass sich frühe Intervention und Förderung volkswirtschaftlich auszahle, dass sie also von Nutzen sei, da später weniger Folgekosten anfallen würden. Das Argument – jenes meiner Seite – hat mich immer gestört. Warum müssen wir für Unterstützungsleistungen an Menschen mit Beeinträchtigungen, die sie ja nie gewählt haben, nachweisen, dass sie irgendeinen volkswirtschaftlichen oder finanzpolitischen Nutzen haben? Ist das nicht einfach das Recht, dieser Menschen, dass sie von einem einigermassen modernen Staatswesen in ihrer Eigenständigkeit soweit möglich unterstützt werden? Und überhaupt: Wer definiert diesen Nutzen und was ist er?

 

Von der Tauschgesellschaft zur Marktgeselleschaft: Die Illusion der westlichen Zivilisation

Die Frage nach der Nutzenrechnung, nach der so definierten, ökonomischen Nützlichkeit, führt uns in den Kern unseren Vertändnis westlicher Zivilsation und in ihre Geschichte. Gemeinhein erzählt der Alltagsverstand und ein Grossteil des offiziellen Diskurses die Geschichte ungefähr so: Wir waren alle irgend einmal Jäger*innen und Sammler*innen (überlicherweise sagt man Jäger und Sammlerinnen). Dann irgendwann haben die Menschen entdeckt, dass man die Früchte der Arbeit auch tauschen kann, ein Begriff von Waren entstand. Die einen waren speziell begabt darin Pferdesättel herzustellen, die anderen darin eben zu jagen. Also haben sie sich spezialisiert, die Tauschwirtschaft und die Gemeinschaft freier und gleicher Händler*innen entstand. Ein Stück Pferdefleisch wurde gegen eine bestimmte Menge Beeren getauscht. Weil die einen fleissiger und geschickter waren als die anderen (die natürliche Ungleichheit der Menschen) entstand das, was wir heute als Vermögen und Leistungsgesellschaft kennen. Zu verdanken haben wir Wohlstand und Frieden dem Impetus des Homo oeconomicus. Also dem Willen jedes und jeden einzelnen seine oder ihren persönlichen Eigennutz zu vergrössern, wodurch gesamtgesellschaftlicher Wohlstand entsteht.

Die Geschichte ist wahrlich eine schöne. Eine schöne Geschichte mit einem kleinen Haken. Dem Haken nämlich, dass sie kreuzfalsch ist. Nicht nur haben solche Tauschgesellschaften nie existiert, sie wären ökonomisch auch völlig unmöglich (dazu bei Gelegenheit vielleicht mal ausführlicher. Nur soviel: Den klassischen liberalen Ökonomen war das übrigens völlig bewusst. Sie haben das Bild der Tauschgesellschaft immer nur als Gedankenexperiment a posteriori verstanden. Erst die neoklassische Pseudowissenschaft hat daraus eine echte Entstehungsgeschichte der Menscheheit gebastelt). Man kann natürlich die Geschichte der Menschheit zu jedem erdenklichen Zeitpunkt einsetzen lassen. Die kapitalistisch-aufgeklärte Moderne beginnt im „Westen“ aber wohl so zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Diese Herstellung dessen, was wir westliche Moderne nennen hat tatsächlich weniger mit Tausch, Frieden und Wohlstand zu tun als mit Blut, Schwert, Gewalt, Unterdrückung, Massenmord und Diskriminierung. Zur Herstellung und Durchsetzung von Lohnabhängigkeit und Warenökonomie war das Blut von Millionen Sklaven aus Schwarzafrika notwendig. Genauso wie wiederholte Völkermorde in den Kolonien weltweit, die massenhafte Enteignung freier oder Lehnsbauern und ihres Gemeineingentums, die gewaltsame Repression gegen Arbeiterinnen und Arbeiter und nicht zuletzt, angefangen bei den Hexenprozessen, die Unterdrückung und Verbannung der Frau aus allen Machtpositionen in Gesellschaft, Politik und Ökonomie. Eine Geschichte der Gewalt, deren Narben sich an Rassismus, Klassenunterschieden und Sexismus bis heute an unseren Gesellschaften ablesen lässt. Die Geschichte der westlichen Zivilisation wird erst zu einer Heilsgeschichte von Fortschritt und Entwicklung in der Gewalt nicht im Zentrum steht, sondern bedauerlicher Unfall ist, wenn wir sie – a posteriori – um die Anthropologie des Homo oeconomicus herum gerade biegen.

 

Marshmellow-Test debunked

Dieses Hineinlesen des Homo oeconomicus in gesellschaftliche Umständer geschieht andauernd und überall. So zum Beispiel auch im Feld der Pädagogik, oder zumindest dessen, was aus der Pädagogik popularisiert wird. Ich möchte ein Beispiel machen. Kennen Sie den Marshmellow-Test? Der Marhmellow-Test wurde Ende der 60er Jahre vom österreichisch-amerikanischen Psychologen Walter Mischel erstmals durchgeführt. Der Test funktioniert knapp so: Kinder werden in ein Zimmer geführt mit einem Stuhl und einem Tisch darin. Auf dem Tisch liegt ein Marshmellow. Sie bekommen von der Betreuungsperson erklärt, dass diese nun den Raum verlassen würde. Wenn die Kinder warten würden bis die Person zurück sei, ohne das Marshmellos zu essen, würden sie nachher mehr Marshmellows erhalten. Die Ergebnisse des Test scheinen eindeutig: Kinder, die über die Fähigkeit zum ökonomischen Kosten-Nutzenkalkül verfügen, verfügen auch über Selstbeherrschung. Sie können ausrechnen, dass es sich für sie lohnt auf das „mehr“ als Marshmellows zu warten. Das faszinierende an Mischels Test war nun, dass er damit über einige Jahre hinweg relativ gut die schulischen Leistungen und Berufserfolge der Kinder voraussagen konnte. Kinder, die den Test „bestanden“, waren erfolgreicher. Das Modell wurde spätestens Mitte der 90er Jahr dank eines Buches von David Goleman popularisiert und fand Eingang in den entwicklungspädagogischen Kanon.

Erst in den letzten Monaten sind allerdings gleich eine Reihe von Studien publiziert worden, die Zweifel aufkommen lassen. Eine erste Untersuchung wurde vom Journal Psychological Science von einer Forscher*innengruppe publiziert. Die Forscher*innen haben den Text mit einer grossen Anzahl von Proband*innen reproduziert und dabei etwas faszinierendes herausgefunden: Der statische Zusammenhang verschwindet, wenn man für die familiären Hintergründer der Proband*innen, also für ihre Klassen- und Milieuzugehörigkeit kontrolliert. Mit anderen Worten: Kinder aus gut situierten Familien mit gebildeten Eltern haben bessere Schul- und Berufschancen, egal ob sie das Marshmellow sofort essen oder nicht. Kinder aus ressourcenschwachen Familien haben schlechter Chancen, egal ob sie sich beherrschen können oder nicht.

Eine zweite Studie der Universität Rochester im Bundesstaat New York ist mindestens so spannend. Sie hat die Kinder vor dem Test an einem Kunstprojekt teilnehmen lassen. Eine Gruppe wurde von Betreuer*innen betreut, die systematisch Dinge versprachen, sie aber nicht einhielten. Die Betreuer*innen in der anderen Gruppe hielten ihre Versprechen. Das eigentlich wenig überraschende Resultat: Kinder, die gelernt hatten, dass sich Vertrauen lohnt, warteten. Kinder, die von ihren Betreuuer*innen systematisch enttäuscht worden waren, warteten deutlich weniger oft. [1]

Was sagt uns das? Nun, dass das Erklärungsmuster des Homo oecomicus nur genau dann funktioniert, wenn wir den Menschen von alledem befreien, was ihn als Menschen ausmacht. Von seiner Geschichte, von gesellschaftlichen Strukturen (Studie von Watts et al.), von der Erfahrung von Solidarität, Vertrauen und den zwischenmenschlichen Beziehungen (Studie der Uni Rocherster).

 

Weisse, gut situierte Männer

Die Frage, die wir nun stellen müssen ist immer dieselbe: Cui bono? Wem nützt eine Welt, die sich nach der Phantasiegestalt des Homo oeconomicus organisiert? Nun, die Antwort steht quasi vor ihnen. Es ist die Welt der Priviegien des weissen, mittel- oder oberklassigen Mannes. Es ist vom diesem Gesichtspunkt, von dem das Nützlichkeitsparadigma unsere Gesellschaftt nützlich und unnütze Teile, in produktive und unproduktive Arbeit unterteilt. Daraus legitimieren wir gesellschaftliche Hierarchien: Zum Beispiel, dass wir zuerst „produktive“ (männliche) Arbeit brauchen z.B. in der Finanzwirtschaft, Industrie oder Chemie, damit wir uns nachher den Katalog von pädagogischen Aufgaben und von – primär weiblicher –  Sorge- und Care-Dienstleistungen leisten können. Das ist übrigens eine absurde von den Füssen-auf-den-Kopf-Stellung ökonomischer Zusammenhänge. Es ist nämlich genau umgekehrt. Die sog. „produktiven“ Arbeiten hängen von der Verrichtung von bezahlten und unbezahlter erzieherischer, Care- und Sorgearbeit ab. Sie können sich das an einem einfachen Gedankenexperiment vorstellen. Stellen Sie sich vor, hier in Zürich würden morgen alle Rohstoffhändler und Investmentbanker streiken. Was würde geschehen? Richtig, zuerst mal relativ lange gar nichts. Stellen Sie sich umgekehrt vor, alle Menschen, die kleine Kinder, Alte, Kranke oder beeinträchtigte Kinder betreuen würden streiken, was dann? Die Aktivitäten in unserer Gesellschaft würden innert Stunden zusammenbrechen.

Und hier endlich, glaube ich, finden wir den Bogen zurück zur Heilpädagogik. Genau dieses Postulat nämlich, die Logik des Füreinanders ins Zentrum unserer Gesellschaft zu stellen, statt des Gegeneinanders und des Profits, das war auch eine der zentralen Inhalte des Schweizer Heilpädagogen Emil Kobi. Kobi hat einmal diese sehr schönen Sätze gesagt:

Heilpädagogik kann es sich nicht leisten, bloss eine Wissenschaft zu sein. Sie hat nicht nur einen Forschungs-Gegenstand, sondern auch ein Mandat. Dieses Mandat ist – in Praxis und Theorie – die Frage nach dem Sein eines Menschen, den wir als behindert und in der Folge oft als hinderlich empfinden. Es ist ferner die Frage nach unserem gemeinsamen Dasein und endlich die Frage nach dem, was wir füreinander sein können.

Ich will ihren Beruf nicht politisch überbeladen, aber wenn wir unsere Welt anschauen, könnte sie dringend etwas mehr von diesem „Füreinander“ gebrauchen. Wir sind drauf und dran die natürlichen Ressourcen des Planeten für kommende Generationen zu ruinieren, weil wir das Prinzip jeder für seinen Profit für wichtiger halten. Oder wenn sich ein paar Superreiche wie in diesen Tage bekannt geworden mal eben so erlaubt haben 55 Milliarden an den Staaten Europas vorbei zu schmuggeln, weil sie keine Lust hatten, sich an der Finanzierung der staatlichen Leistungen zu beteiligen. Oder schauen sie die Welt der internationalen Politik an, mit ihren Putins, Orbans, Erdogans oder Trumps, die nur noch das jeweile „Amerca first“ oder „Russia first“ oder was auch immer kennen.

Meine Bitte an Sie ist: Seien sie wache Heilpädagog*innen, seien sie wache Sonderpädagog*innen. Natürlich, der Fokus ihrer Arbeit beginnt im ganz konkreten bei den Menschen, die man ihnen anvertraut. Aber vergessen Sie nicht, sich bisweilen zu wehren. Dann, wenn, die ihnen anvertrauten Menschen, wenn Sie, wenn ihre Berufsfelder an den Rand der Auseinandersetzung, z.B. über ein kantonales Budget gedrängt wird. Kämpfen Sie um das Mandat ihres Berufes, wenn es sein muss: Das die Würde und die Bedürfnisse alle Menschen, ob mit Beeinträchtigung oder ohne, ins Zentrum unserer gemeinsamen Bemühungen als Gesellschaft rücken müssen, nicht an den Rand.

Lassen Sie mich schliessen mit einem Dank. Einem Dank dafür, dass Sie sich für diesen Weg entschieden haben. Ein Weg, der nicht selbstverständlich. Sie haben sich entschieden, einen Grossteil ihrer Zeit dem mit- und füreinander zu widmen und nicht der Maximierung ihres Bankkontos. Das verdient, gerade in unseren Zeiten, höchsten Respekt und Anererkennung. Ich wünsche Ihnen, beruflich wie privat, all‘ diese Befriedigung, die Sie sich erhoffen. Und nun lassen Sie uns Sie feiern. Feiern Sie heute ausgiebig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ein guter oder eine gute Heil- oder Sonderpädagog*in sein kann, wenn man nicht feiern kann. Zumindest möchte ich einem Menschen, der oder die nicht feiern kann, meine Kinder nicht anvertrauen. Danke.

 

Diese Rede wurde anlässich der Diplomfeier der Masterstudiengänge Schulische Heilpädagogik und Heilpädagogische Früherziehung der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik am 24. Oktober 2018 im Volkshaus in Zürich gehalten. Die Rede wurde frei ab Notizen gehalten, es handelt sich bei diesem Text um ein ungefähres Gedankenprotokoll.

[1] Ausführlich zu aktuellen Studien zu den Marshmellow-Tests vgl. „Marshmellow-Maximinierung“, im Neuen Deutschland vom 13.1.10.2018.

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