Ich habe die Schnauze voll vom Wahlkampf. Ja, ganz ehrlich, es geht mir sowas von auf den Geist. Oft haben wir in dieser Zeit drei, viermal pro Tage eine Veranstaltung, ein Podium, eine Standaktion, einen Interviewtermin – Samstag und Sonntag eingeschlossen. Wahlkampf ist eine verdammt anstrengende Zeit. Aber das ist es nicht. Das macht sogar Spass, weil man selten im Politikerleben in so kurzer Zeit mit so vielen unterschiedlichen Menschen in Kontakt kommt.
Was mir so dermassen auf den Geist geht, ist die zunehmende Inhaltslosigkeit vieler Wahlkämpfe. Image scheint das Zauberwort der Stunde zu sein. Es geht immer nur um Image. Die SVP versucht sich mit ihren Blödelvideos ein lockeres Image zu geben, die FDP arbeitet sich am „Bankenimage“ ab, die CVP will das „Image“ einer modernen, aufgeschlossene Familienpartei… Sie dürfen die Imagekampagne wählen, die ihnen in den Sinn kommt. Es ist frustrierend, wie wenig Platz in einem solchen Wahlkampf inzwischen die inhaltliche Auseinandersetzung einnimmt, wie stark sie von Politmarketing verdrängt wird.
Seit mehreren Jahren lässt sich beobachten, wie der Einfluss von (selbst ernannten) Politikexperten und –beratern auf die Politik zunimmt. Sie machen Politik zum Geschäft. Sie arbeiten für jeden, der sie bezahlen kann, unabhängig davon, was er oder sie politisch vertritt. Politische Inhalte können in diesem Geschäft keine Rolle mehr spielen. Die inflationären „Ratings“ in denen wir National- und Ständeräte nach allen möglichen und unmöglichen Kriterien bewertet werden, tun das ihrige dazu. Die meisten solchen Bewertungen, z.B. jene über den individuellen Einfluss von Parlamentariern, sind zwar hahnebüchen, aber sie wirken. Sie machen Politik zu einem Aufmerksamkeitsbusiness: Lob erhält nicht mehr, wer inhaltlich recht hat, sondern wer sich durchsetzt – ob mit sinnvollem Inhalt oder nicht – wer auffällt – ob intelligent oder nicht – wer eine gute Falle macht. Die Form wird plötzlich wichtiger als der Inhalt. Für die Beratungsindustrie funktioniert das Modell: Die politischen Parteien und Verbände verlagern seit Jahren ihre Budgets von der politischen Grundlagen- und Bildungsarbeit hin zu Kampagnen und Marketing – und das generiert Aufträge. Politische Kampagnen gleichen deshalb auch immer mehr den Werbeannoncen für Mars oder Snickers: Darf’s ein bisschen süsser sein?
Dahinter steht ein Politikmodell, dass wir inzwischen alle aus den Medien kennen: Die Vorstellung Politik sei so etwas wie ein zwei- oder mehrdimendionaler Markt, zum Beispiel einer dieser berühmten „Smartspider“. Irgendwo auf diesem Markt sind die Wählerinnen und Wähler verteilt. Die Aufgabe der Politikerinnen und Politiker als Unternehmer ihrer selbst besteht nun vermeintlich darin, sein oder ihr Image dorthin zu bewegen, wo er oder sie die potentiellen Politikkonsumentinnen vermutet. Eigene Positionen werden dabei zur Nebensache: Wichtig ist nicht mehr, woran man glaubt. Sondern das, wovon man glaubt, dass es die Menschen hören wollen. Politik wird dann auch Expertenangelegenheit. Offenbar brauchen wir plötzlich Beraterinnen und Berater, die statistische Daten auswerten, die uns dann sagen, was die Menschen diesem Land anscheinend wollen – anstatt, dass wir mit ihnen sprechen würden.
So verliert die Politik den Kern dessen, was sie eigentlich ausmachen sollte: Der Streit darum, wie und nach welchen grundlegenden Regeln wir unsere Gesellschaft organisieren wollen. Das Problem an einem Marktmodell liegt genau darin. Für Marktteilnehmer sind die Regeln gesetzt, Angebot und Nachfrage bestimmen (vermeintlich) den Preis. Das System kann keiner in Frage stellen. Macht man Politik aus Überzeugung geht es nicht darum, den oder die Wählerin oder Wähler auf dem weissen Fleck im Koordinatensystem zu finden. Wahlsiege sind die Folge guter Politik, nicht der Selbstzweck. Es geht vielmehr darum, das ganze Koordinatensystem der Gesellschaft zu verschieben. Die Menschen von den eigenen politischen Inhalten zu überzeugen, um ihre Herzen und Köpfe zu kämpfen. Nicht darum, sich ihnen zu verkaufen. Eine Politik, die das nicht mehr tut, kommt selbstverständlich jenen zu Gute, vom aktuellen Status quo am meisten profitieren.
Die Menschen spüren, wenn das, was sie tagtäglich in den Zeitungen lesen zum Theater verkommt. Sie wenden sich frustriert von der Politik ab, oder sie wählen jene, die diesen Frust thematisieren. Die inhaltsleere vieler etablierter Parteien war eines der zentralen Einfallstore für die neue Rechte von Blocher bis Le Pen. Europa erlebt dieser Tage aber, dass ein Aufstand gegen eine marketinggetriebene Politik auch Hhoffnungsvoll sein kann und nicht destruktiv sein muss. Die Erfolge von Podemos in Spanien, Bernie Sanders in den USA, Syriza in Griechenland und zuletzt die Wahl des jahrzehntelangen „Backbenchers“ (Hinterbänkler) Jeremy Corbyn zum Präsident der Labour Partei Grossbritannien sind ein Ausdruck davon, wie satt es die Menschen haben, Marketing vor politische Überzeugungen zu stellen. Nach Jahren des inhaltsleeren Campaigns und der mehr oder der „flexiblen“ Handhabung von politischen Überzeugungen, wenn es grade passte, verspricht Corbyn das Gegenteil: No games! Nicht Taktik, nicht Marketing, sondern Überzeugung. Auch wenn das heisst, hart angegriffen zu werden. Es wäre zu hoffen, dass etwas von diesem politischen Mut über den Kanal schwappt.
Dieser Artikel ist am 17.9.15 in der Weltwoche erschienen.