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pass„Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt nicht auf so einfache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“ (Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche)

An ihrem Parteitag im September 2012 in Lugano verabschiedete die Sozialdemokratische Partei der Schweiz nach kontroverser Diskussion ein ausführliches Positionspapier zur Migration. Trotz anfänglichem Streit um Inhalt und Strategie einer sozialdemokratischen Migrationspolitik wurde die Schlussfassung des Papiers mit sehr deutlichem Mehr von den Delegierten genehmigt. Mit dem Papier bekräftigt die SP den Willen zu einer Politik der Öffnung, die Einwanderung in erster Linie als Chance begreift. Als Chance für breite Bevölkerungsschichten auf mehr Gerechtigkeit, Wohlstand und Sicherheit, als Chance für neue Perspektiven und gesellschaftliche Entwicklungen. Zugleich fordert sie, dass die Öffnung des Landes einhergehen muss mit innenpolitischen Reformen. Flankierend zur Öffnung braucht es mehr soziale Gerechtigkeit in den Bereichen Steuern, Arbeit, Wohnen und Bildung sowie eine bessere Raumplanung gegen die Zersiedelung. Die Öffnung der Schweiz darf nicht dazu führen, dass der wirtschaftliche und soziale Druck erhöht und so eine gesellschaftliche Spaltung zwischen angestammten und zugezogenen Bewohnerinnen und Bewohnern unseres Landes verursacht wird. Denn diese Spaltung ist der Nährboden für Fremdenfeinde.

Eine mittelalterlich anmutende Migrationsdebatte

Diese SP-Beschlüsse sind zukunftsweisend, und die Strategie des Ausbaus der flankierenden Maßnahmen zum freien Personenverkehr ist politisch richtig. Doch sie ändern nichts an der Tatsache, dass der migrationspolitische Diskurs in der Schweiz von der nationalkonservativen Rechten dominiert wird. Die Verknüpfung der Migration mit sozialen, wirtschaftlichen und umweltpolitischen Problemen, die man dank flankierenden Maßnahmen lösen will, trägt eher noch zu dieser Dominanz bei. Den bisherigen Tiefpunkt der Migrationsdebatte stellt die Revision des Bürgerrechtsgesetzes dar, die in der noch laufenden Frühlingssession im Nationalrat behandelt wurde. Uns erschreckt, dass die Rechte unverfroren von »kulturfremder Migration« spricht und eine mittelalterlich anmutende Blut-und-Boden-Mentalität durchsetzen kann – während FDP, GLP und CVP die entscheidenden Verschärfungen kritiklos mittragen. Unter dem Druck der SVP hat die bürgerliche Mitte ihren Kompass für eine aufgeklärte Migrationspolitik verloren. Und die progressiven Kräfte verharren in der Migrationsfrage ständig in der Defensive.

Eine Neugestaltung der Schweizerischen Staatsbürgerschaft

Wir, die vier Unterzeichnenden, wollen dies nun ändern und haben einen entsprechenden Antrag bei der SP Schweiz eingereicht. Wir wollen raus aus der Defensive. Wir sind davon überzeugt, dass die SP und mit ihr alle Progressiven der Schweiz die konservativen Kräfte im argumentativen Kern ihrer Migrationspolitik treffen müssen: der Definition der Mitbürgerin und des Mitbürgers. Es geht darum, die Auffassung davon zu ändern, wer eine Schweizerin oder ein Schweizer ist. Für Progressive ist klar, dass alle, die hier leben, auch dazugehören. Dass alle Kinder, die hier aufwachsen, zu uns gehören. Es sind unsere Kinder, nicht irgendwelche »Ausländerkinder«. Für deren Zukunft tragen wir alle gemeinsam die Verantwortung.

Darum muss jetzt – vor dem Hintergrund der haarsträubenden Revision – eine grundlegende Reform des Schweizer Bürgerrechts gefordert und wenn nötig per Volksinitiative durchgesetzt werden. Diese Neugestaltung der schweizerischen Staatsbürgerschaft könnte nach folgenden Grundsätzen erfolgen:

1. Die bestehende Dreistufigkeit im Schweizer Bürgerrecht – Gemeinde, Kanton, Bund – wird abgeschafft. Es braucht eine einheitliche, schweizerische Staatsbürgerschaft, die in einem rechtsstaatlichen Verfahren vom Bund gewährt wird und nicht nur auf dem Abstammungsprinzip (ius sanguinis) basiert, sondern sich auch am Territorialprinzip (ius soli) orientiert.

2. In der Schweiz lebende Migrantinnen und Migranten der dritten Generation erhalten das Anrecht auf automatische Einbürgerung, Migrantinnen und Migranten zweiter Generation erhalten das Anrecht auf eine erleichterte Einbürgerung.

3. Für die Zukunft soll das schwedische Modell angewendet werden, wonach jedes Kind, das mindestens fünf Jahre seines Minderjährigenlebens hier verbringt, unabhängig von seinem Status automatisch das Schweizer Bürgerrecht erhält. In der Schweiz lebende staatenlose Kinder erhalten zudem automatisch das Bürgerrecht (Schwedisches Staatsangehörigkeitsgesetz von 2001, Artikel 6 und 7).

Wir sind überzeugt, dass eine Kampagne unter dem Motto »Jedes Kind, das hier aufwächst, ist ein Schweizer Kind!« politisch attraktiv ist. Schließlich berührt sie Kopf und Herz jedes fortschrittlichen Menschen: die Gleichheit der Individuen und eine Gesellschaft der gemeinsamen Verantwortung und der Solidarität. Und unser konkreter Vorschlag ist anschlussfähig für alle liberal-republikanischen Staatsvorstellungen.

Er bringt verschiedene, ganz konkrete Vorteile gegenüber der heutigen Praxis mit sich. Er stellt erstens die Staatsbürgerschaft an den Anfang der Integration und nicht ans Ende. Damit tun wir genau, was ein republikanisches Weltbild im Endeffekt ausmacht: den Menschen zuallererst bedingungslos als Teil der politischen Gemeinschaft anzuerkennen, weil er oder sie von den Gesetzen direkt betroffen ist – egal, ob er oder sie »gut oder schlecht ist«.

Er sorgt durch die bundesweite Vereinheitlichung der Staatsbürgerschaft für die Verwirklichung eines liberalen Gleichheitsideals. Gerade vor dem Hintergrund steigender Anforderungen an die private und berufliche Mobilität ist die heutige Regelung zunehmend realitätsfern.

Drittens werden die Einbürgerungschancen der in der Schweiz lebenden Kinder und Jugendlichen vom Status ihrer Eltern entkoppelt. Es ist ein Anachronismus, dass heute der Aufenthaltsstatus der Eltern die Möglichkeit der politischen Teilhabe ihrer Kinder beschränkt.

Die bürgerliche Mitte müsste sich bei einem solchen Vorschlag entscheiden: Bringt sie noch die Kraft zu einer eigenständigen Position jenseits des vermeintlichen Kalküls einer Anlehnung an die nationalkonservative Rechte auf oder sind ihr liberale Prinzipien in der Migrationsfrage vollständig abhanden gekommen? Wir sind gespannt auf die Antwort.

Dieser Artikel erschien am 21.3.13 in „Die Zeit“ erschienen. Hier geht’s zum Artikel auf der Webseite der „Zeit“. 

Die AutorInnen:

Andrea Arezina ist Präsidentin der SP Baden
Andri Perl ist Schriftsteller und Mitglied der SP Graubünden
Jon Pult ist Grossrat und Präsident der SP Graubünden
Cédric Wermuth ist Nationalrat der SP Aargau

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