It’s class war, stupid! – ein Kommentar zur Flüchtlingsdebatte

Kurdish Syrian refugees walk at the Turkish-Syrian border near the southeastern town of Suruc in Sanliurfa province, September 24, 2014. The United Nations refugee agency said on Tuesday it was making contingency plans in case all 400,000 inhabitants of the Syrian Kurdish town of Kobani fled into Turkey to escape advancing Islamic State militants.      REUTERS/Murad Sezer (TURKEY  - Tags: POLITICS CIVIL UNREST CONFLICT)Das Drama um die Flüchtlinge beherrscht dieser Tage das politische Geschehen und viele private Diskussionen. Auch rund um die Kommissionssitzungen im Bundeshaus kommt man nicht um die emotionale „Debatte“ herum. Man fragt sich erstaunt: Was passiert eigentlich gerade in der Schweiz? Woher kommt diese Herzenskälte? Woher der Hass? Und wie konnte er so weit in unsere Gesellschaft eindringen? Dass es am rechten Rand eine mal grössere mal kleinere Gruppe rechtsextremer Spinner gibt ist nichts Neues. Das Phänomen existiert seit es bürgerliche Demokratien gibt. Es ist schön und gut, dass nun immer Kommentatoren lautstark einen Aufstand gegen die Rechtsextremen fordern. Aber es ist eben nur die halbe Antwort. Die neue Qualität der neuen Asylhetze besteht darin, dass bis weit in die Mitte der Gesellschaft reicht. Wie konnte es soweit kommen, dass einst durchaus vernunftbegabte bürgerliche Parteien wie die FDP und die CVP heute auf dieser Welle reiten wollen? Objektiv betrachtet – und das gibt unter vier Augen auch jeder Bürgerlicher Politiker zu – ist das Gerede vom vermeintlichen „Asylchaos“ völliger Schwachsinn. Das gibt inzwischen sogar SVP-Bundesrat Maurer zu („Im Moment haben wir die Lage im Griff“). Die Kosten für das Asylwesen bewegen sich in der Grössenordnung von 1/70 dessen, was die Schweiz über Nacht für die Rettung der UBS ausgegeben hat. In weit ärmeren Ländern wie z.B. dem Libanon sind inzwischen 25% der Bevölkerung Flüchtlinge. Das ist die Krise. Hier nicht. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine zynische, opportunistische politische Strategie des Klassenkampfes von oben.

„die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung“

Die zentralen Treiber von Fremdenhass sind Angst und Unsicherheit. Und wir leben heute in einer Gesellschaft, die zunehmend von Angst und Unsicherheit über die Zukunft geprägt ist. Angst vor dem Jobverlust, Angst vor den Zusammenbruch der Sozialversicherungen, Angst davor, dass unsere Kinder es einmal schwieriger haben werden als wir, Angst davor, das wir zunehmend in einer Welt leben, die unserer Kontrolle entgleitet. Nicht nur unsere persönlichen (Erwerbs-)Biografien scheinen immer mehr Brüche und Unsicherheiten zu erfahren – die Welt in der wir leben, bricht mit ihren multiplen Katastrophen von Klima-, Finanz-, bis zur Flüchtlingskrise regelrecht über uns herein. Ein Gefühl von (politischer) Ohnmacht macht sich breit, der Eindruck wir würden die Kontrolle darüber verlieren, was mit uns geschieht. Im besten Fall resultiert daraus politische Abstinenz. Im schlechteren Fall verlieren Menschen in prekären Verhältnissen die Fähigkeit zum empathischen Einfühlungsvermögen. Wer ständig damit beschäftigt ist, seine eigene Position auf einem schlingernden Schiff gegen die anderen zu behaupten, hat wenig Nerven übrig für Solidarität.

Karl Marx hat den Kapitalismus als eine historische Phase bezeichnet, die gekennzeichnet ist durch „die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung“. Die historische Antwort auf diese Epoche der ständigen Umbrüche war das Erstarken der sozialdemokratischen Bewegung. Sozialdemokratischen Errungenschaften wie Arbeitsgesetze, Sozialwerke, Altersversicherungen, Gesamtarbeitsverträge, Ausweitung der Frauenrechte etc. haben diesem Wandel lange eine erträgliche Kadenz und einen überschaubaren Ordnungsrahmen aufgezwungen. Dieser Rahmen steht heute politische zum Abschuss frei. Die neoliberale Revolution der Marktradikalen macht sich daran, die sozialen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts frontal anzugreifen.

Das Projekt von Angst, Unsicherheit und Ohnmacht – kurz: der Neoliberalismus – entsteht nicht zufällig, sondern ist die Folge einer bewussten politischen Entscheidung. Nach dem Ende der Systemkonkurrenz durch die Sowjetunion steht nur noch der (nationale) Sozialstaat dem Umverteilungsprojekt von unten nach oben im Wege. Das Problem ist nur: Wie bringt man eine Gesellschaft dazu, ihre eigenen sozialen Errungenschaften wie ein öffentliches Gesundheitssystem, Arbeitssicherheit oder Sozialversicherungen in Frage zu stellen? Wie also bringt man die Menschen dazu, gegen ihre eigenen Interessen zu handeln? Nun, eben: Angst, Unsicherheit, Ohnmacht. Wer genug Angst vor der Zukunft hat, nicht weiss, ob es morgen noch schlechter gehen wird uns sich dagegen nicht wehren er kann, erst der oder die lässt sich seinen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum nehmen, in der Hoffnung, der Albtraum mögen dann endlich ein Ende haben. Die Strategie hat Erfolg: Die Vermögen an der Spitze unserer Gesellschaf explodieren, die unten und mittleren Einkommen halten lange nicht mehr Schritt. Eine kleine Minderheit bedient sich zunehmend schamloser am gemeinsam erwirtschafteten Reichtum.

It’s class war, stupid!

Die Geschichte hat aber einen Haken. Eine Gesellschaft, die die existentielle Sicherheit ihrer Mitglieder nicht mehr gewährleisten kannt, beginnt irgendwann Abwehrreflexe zu entwickeln. Und die Gefahr für die Eliten ist gross, dass sich dies in der Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit entlädt. Es ist kein Zufall, dass die Zahl an Volksinitiativen in diese Richtung genau nach der Finanzkrise zunimmt (1:12, Mindestlohne, Grundeinkommen, Erbschafssteuer, etc.). Eine Strategie, das zu verhindern, besteht darin, einen Schuldigen zu finden. Und den haben sie gefunden: Mal Europa, mal die Scheininvaliden, mal die Muslime. Flüchtlinge sind das „ideale“ Ventil: Man kann Sie für alles verantwortlich machen und sie können sich politisch nur schlecht artikulieren, geschweige denn wehren. Man kann ihnen den drohenden Untergang des Abendlandes bestens in die Schuhe schieben. Schliesslich hat noch kaum einer der „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“-Schweizer je einen Flüchtling aus näher als fünf Meter Abstand gesehen. Sind erst die unten das Ziel der politischen Attacke, geraten die Verantwortlichen oben aus dem Schussfeld. Das ist die bekannte politische Strategie der SVP. Die Frage ist aber: Wie konnten Parteien wie die FDP und CVP, wie konnte ein Grossteil des bürgerlichen Lagers sich diesem zynischen Projekt anschliessen?

Ist ihnen schon mal aufgefallen, in welcher Sprache heute über Flüchtlingspolitik gesprochen? Davon, dass die Schweiz „zu attraktiv“ sei für Flüchtlinge. Dass man die „Kosten“ für die Schlepperbanden erhöhen müsse. Kommt ihnen diese Sprache bekannt vor? Es ist die Sprache der Mainstream-Ökonomie. Es ist die Sprache von Angebot und Nachfrage, von Marktpreisen und Standortwettbewerb, es ist die Sprache der marktradikalen Ideologen. Die Ideologie der Marktradikalität bildet eine entscheidende Grundlage dafür, dass die aktuelle Welle der Fremdenfeindlichkeit die Mitte der Gesellschaft erreichen konnte. Ihre technokratische Sprache bietet eine Möglichkeit, die Fremdenfeindlichkeit in einen scheinbar vernünftigen, ökonomisch rationalen und damit breit akzeptablen Diskurs zu kleiden. Wir lassen es bereits seit Jahren zu, dass jeder Politikbereich, jeder Teil unsere Umwelt nach und nach dem ökonomistischen Nutzenkalkül unterworfen wird: Von der Gesundheitspolitik bis zur Bildung, von der Fallpauschale bis zum Punktesammeln an den Universitäten. Überall hören wir, wir bräuchten mehr Markt, mehr Wettbewerb, mehr Konkurrenz, mehr Egoismus. Der Markt wird offenbar zum allgemeinen Ordnungsprinzip für alle Bereiche unseres Lebens. Es ist wenig überraschend, dass dieses Marktmodell auch in der Migrationspolitik angewendet wird.

Der Markt kennt bekanntlich keine Empathie, sondern nur Preise. Keine Menschen mehr, sondern Konsumenten. Wird das Marktmodell zum allgemeinen Ordnungsprinzip kann es nicht mehr darum gehen, die Spielregeln grundlegend zu verändern, sondern nur noch darum, die Position des Migrationsunternehmens Schweiz so oder anders auf dem globalen Markt zu verbessern. In dieser Logik lassen sich plötzlich beinharte Asylgesetzrevision und Abwehrmassnahmen rechtfertigen, weil sie völlig harmlos und wissenschaftlich untermauert klingen.

Dieser Diskurs ist allerdings brüchig und keineswegs unbesiegbar. Er hat einen entscheidenden Schwachpunkt: Empathie. Empathie für die Flüchtlinge bricht dort in das kalte Marktmodell ein, wo es seine Schwachstelle hat. Empathie verunmöglicht eine Abstraktion hinter den Floskeln von „Attraktivität“ und „Flüchtlingswellen“. Sie kann eine Debatte jenseits steriler Gesetzesartikel und Floskeln menschlich machen. In diesem Sinne ist jede Protestaktion, jeder zivile Ungehorsam gegen Ausschaffungen, jede Lichterkette, jeder Direktkontakt zwischen Flüchtlingen und Einheimischen ein wichtiger Schritt. Die Strategie über Asylfragen zu schweigen um der Debatte auszuweichen, ist falsch. Genauso wie es falsch ist, sich diesem Diskurs zu unterwerfen und die „Sorgen ernst nehmen zu wollen“. Damit bleibt man gezwungenermassen im falschen Diskurs hängen. Diskurse werden verändert in dem man sie ganz grundlegend in Frage stellt, nicht in dem man sie mitmacht.

Es gibt keinen Kampf gegen den Fremdenhass ohne Kampf gegen das neoliberale Projekt. Wenn wir als Gesellschaft zur Ruhe kommen wollen, müssen wir die Politik der Angst, der Unsicherheit und die Ohnmacht überwinden. Solange das Umverteilungsprojekt von unten nach oben weitergeht, so lange jede Steuerreform auf die Entlastung der obersten 10’000 zu Lasten der Allgemeinheit geht, so lange werden wir die Spirale weiter anheizen. Wir müssen Sozialstaaten ausbauen, nicht abbauen. Wir müssen Arbeitszeiten regulieren, nicht frei geben. Wir müssen den Kündigungsschutz ausbauen, die Leistungen der Krankenversicherungen halten, die Angriffe auf die Renten und Sozialwerke abwehren. Erst wenn die Sicherheit für meine Zukunft zurückkehrt, entziehen wir dem Hass seine Grundlage.

Hier liegt die Verantwortung der bürgerlichen Parteien: Sie müssen sich entscheiden. Man kann nicht den Fünfer und das Weggli haben – eine humanitäre Schweiz und eine neoliberale Schweiz beissen sich. Nur mit einer Rückkehr zu einer Politik des sozialen Ausgleichs können wir langfristig die Fremdenfeindlichkeit bekämpfen.

 

Dieser Text erscheint am 3. September 2015 in der Weltwoche.

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