Kurz notiert: Wann ist Identitätspolitik links?

Gestern Abend (21.6.17) fand zur Vernissage von Widerspruch Nr. 69 im Volkshaus in Zürich ein Podium unter dem Titel „Race, Class, Gender: Die Linke und die Identitätspolitik statt“. An diesem Podium durfte ich neben Katrin Meyer, Rohit Jain und Vania Alleva unter der Leitung von Annemarie Sancar (WIDE) teilnehmen.

Die Debatte um die Identitätspolitik ist spätestens seit Brexit und der Wahl von Donald Trump innerhalb der Linken teilweise wütend entbrannt. Vereinfacht gesagt es um die Frage, ob die Linke neben der Klassenfrage auch aus anderen Perspektiven, eben anderen Identitäten, Politik machen soll, kann und darf. So lautet beispielsweise einer der Vorwürfe, die Linke habe die traditionelle Arbeiterklasse verloren, weil sie sich zu stark um die Anliegen von Frauen, Homosexuellen oder Umweltbewegten kümmere. Vorne weg: Das halte ich für Chabis. Ich habe mir nach der Debatte einige Punkte notiert, die ich hier in Form eines kurzen Gedankenprotokolls wiedergebe.

  • Der Angriff auf die „Identitätspolitik“ sollte nicht unterschätzt werden. Es geht im wesentlichen darum, die Post 68er Linke wieder zu spalten. Eine Linke, die es, mehr oder weniger, geschafft hat, die „Sozial- und Künstler*innenkritik“ (Seibert) zusammen zu bringen. Das heisst, eine Linke, die eben gerade Macht und Herrschaft in ihrer komplexen Mehrdimensionalität bekämpft, das heisst an allen Bruchlinien von Rasse, Klasse und Gender gleichzeitig. Wir müssen das in einem Kontext eines breiten, reaktionären Angriffes unter den Stichworten „Denkverbote“, „Genderwahn“ oder „Political Correctness“ sehen.
  • Die Frage, wann eine Politik aus der Perspektive einer bestimmten Identität, sei dies nun die Klasse, das Geschlecht, die Nation oder was auch immer legitim ist oder nicht, entscheidet sich, so glaube ich – vorläufiger Stand des Irrtums – an vier Kriterien.
    1. Die formulierte Identitätspolitik hat einen nicht-essentialistischen Anspruch. Essentialistisch meint, dass einer bestimmten Gruppe auf Grund eines (mehr oder weniger) unveränderbaren Merkmals bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden (eine Essenz ihres Seins). Es gibt zum Beispiel ein Argument, dass besagt, die Finanzkrise hätte nicht stattgefunden, wenn mehr Frauen in den Chefetagen der Banken wären. Oder das Muslime weil sie Muslime sind nicht demokratiefähig wäre. Das halte ich für falsch und gefährlich. Essentialistische Zuschreibungen waren immer schon beliebte Machttechniken. So hat nach dem Durchbruch der bürgerlichen Revolutionen in Europa den Bevölkerungen der Kolonien die Menschenrechte wieder abgesprochen, weil sie scheinbar noch nicht zivilisierte Barbaren seien, die es nachzuerziehen gilt. Nur keine Anthropologie ist eine linke Anthropologie
    2. Links sein bedeutet, im Kern die strukturelle Gewalt von unterschiedlichen Zugängen zu Macht und Herrschaft, z.B. zu materiellen und ideologischen Produktionsmittel, zu kritisieren. Linke Kritik kann also nicht darin erschöpfen, Rassismus als individuelle Einstellung zu kritisieren, sondern sie muss untersuchen, inwiefern eine Gesellschaft strukturelle Rassismus fördert, z.B. über ihr Bürger*innenrecht. Das bedeutet umgekehrt, dass man Diskriminierungen auch nicht einfach mit ein bisschen Diversity Management bekämpfen kann, wie das Macron aktuell mit seiner Parlamentsfraktion tut. Rassismus und Sexismus sind nicht überwunden, weil jetzt mehr People of Color und mehr Frauen im Parlament sind.
    3. Die Politik muss immer einen universalistischen Anspruch haben. D.h. es kann nie darum gehen, die eigene individuelle oder kollektive Position auf (relative) Kosten der anderen zu verbessern. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn der Abbau des Asylrechts angeblich mit dem „Schutz“ von Frauen oder Homosexuellen legitimiert wird. Es muss immer darum gehen aus der Kritik einer bestimmten Diskriminierungserfahrung oder Identität ein Menschenrecht einzufordern. Frauenrechte sind Menschen, Homosexuellenrechte sind Menschenrechte, Flüchtlingsrechte sind Menschenrechte. Das bedeutet auch, dass jede Identitätspolitik – auch jene der Klasse – die Gleichursprünglichkeit der Machtverhältnisse an den Bruchlinien von Race, Class und Gender anerkennen muss. Mir scheint, by the way, das auch ein ganz entscheidendes Kriterium bei der Frage, ob die Linke nationale Bewegungen unterstützen kann. Ich meine ja, dann, wenn sie einen republikanischen Universalismus, also einen Rechtsstaat mit Rechten für alle – unabhängig von Religion, Ethnie, Gender – anstreben.
    4. Die Formulierung von Forderungen kann nur in der Praxis, also nur emanzipatorisch mit den Leuten, nicht paternalistische für sie geschehen. Es gibt keine Genderkritik ohne Frauenbewegung, genauso wenig wie man die Islamophobie nicht bekämpfen kann, ohne progressive Muslime. Letzteres schützt auch vor einer Falle der Identitätspolitik: Davor, quasi aus Versehen, reaktionäre Politik die einen kritischen Charakter vorgaukelt zu unterstützen. So versuchen sich z.B. Islamisten wie der IZRS hinter einer Fassade der Verteidigung von Minderheitenrechten zu verstecken. Klammer auf: Umgekehrt sollten wir natürlich als Linke auch auf die Absurdität der aktuellen Islamhetze aufmerksam machen. Der Islam wird missbraucht, um die eigenen Probleme zu delegieren: Plötzlich wird vor dem „Import“ von Antisemitismus, Patriarchart oder Schwulenfeindlichkeit durch arabischstämmige Flüchtlinge gewarnt – wie wenn es das in einem Land ohne Adoptionsrecht für Homosexuelle, des Frauenstimmrechts ab 1971 und der Erfinder des Judenstempels nicht gäbe und nie gegeben hätte. Klammer zu.
    5. Der gemeinsame Fokus der aktuellen Kämpfe muss ein antikapitalistischer sein. Das ist der Moment, wo die verschiedenen Diskriminierungen und Machtverhältnisse zum Herrschaftsinstrument der herrschenden Klassen werden. Es ist deshalb zentral, dass wir die Verschränkung von „sozialer Frage“ und Race und Classe nicht nur in die eine, sondern in beide Richtungen verstehen. Rassismus und das Patriarchat gab es vor dem Kapitalismus und wird es wohl auch nach ihm geben. Aber sie sind heute in ihrer strukturellen Gewalt nur als Ausdruck spezifisch kapitalistischer Herrschaft zu verstehen und zu bekämpfen.

— Work in Progress —

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