Wir haben gestern endlich wieder einmal zusammen einen Sieg errungen. Einen Sieg gegen den vorläufigen Gipfel einer menschen- und demokratieverachtenden Politik der SVP. Ohne dich wäre das nicht möglich gewesen. Tatsächlich stimmt es wohl, dass ein grosser Teil der Spitzen der institutionellen Politik den Kampf bereits Ende letzten Jahres als aussichtslos beurteilte. Sie haben dich schon lange als vermisst gemeldet und wollten vielleicht schon in das Begräbnis einwilligen. Aber du hast das Gegenteil bewiesen. Du lebst! Du hast in einem regelrechten Energieanfall alles angezapft, was du in diesem Land anzapfen kannst. Für diese Fehleinschätzung werden wir Parteien jetzt auch geprügelt. Nicht alles davon stimmt, aber egal. Etwas Haue haben wir verdient.
Zeitweise waren die vergangenen zwei Monate richtig begeisternd: Plötzlich warst du, die Totgesagte, so lebendig wie noch nie – zumindest seit ich halbwegs klar denken kann. Plötzlich war wieder so etwas spürbar wie Hoffnung. Nach 20 Jahren erdrückender Dominanz der Rechtsextremen einerseits und der Entpolitisierung andererseits scheint so etwas wie eine Bewegung für eine andere Schweiz richtig greifbar. Seit Jahren verzweifle ich daran, weil wir uns genau das immer gewünscht haben. Dass du endlich wieder auftauchst, aber ich hatte irgendwie die falsche Nummer notiert (ja, das ist mein Fehler, gebe ich zu). Und jetzt haben wir gewonnen. Zumindest das, was noch zu gewinnen war. Wir haben die Feier verdient, Prost!
Wir sind nicht am Ende der reaktionären Welle, wir sind mittendrin…
Und trotz aller Feierlaune muss ich gestehen, bleibt ein fahler Nachgeschmack. Wenn wir uns einmal kurz in aller Ehrlichkeit eingestehen, was wir wirklich gewonnen haben, sieht die Prognose nicht unbedingt begeisternd aus. Wir haben eine Abstimmung über eine Initiative gewonnen, die so absurd ist, dass sie allein schon dadurch, dass sie im vollen Ernst diskutiert werden musste eine Beleidigung von 200 Jahren menschlicher Geschichte nach der Französischen Revolution darstellt. Und es ist nicht etwa so, dass dieser Feldzug gegen den Rechtsstaat, gegen die Gewaltenteilung, gegen die Grundrechte, gegen die demokratische Freiheit, keinen Erfolg gehabt hätte. Im Gegenteil. Das Parlaments ist seit Jahren auf praktisch allen wichtigen Politikfeldern auf das Programm dieser Partei eingeschwenkt: Steuern, Wirtschaft, Asyl, Migration… you name it. Wir sind nicht am Ende der reaktionären Welle, wir sind Mitten drin.
Und ich gebe zu, ich habe ein bisschen Angst vor dir, liebe Zivilgesellschaft. Angst davor, dass du morgen, wenn ich aufwache, wieder verschwunden bist. Dass du mir dann wieder eine SMS schickst, du wolltest dich eben nicht von einer Partei vereinnahmen lassen. Du wollest unabhängig bleiben. Du wolltest dich politisch nicht so fest binden, es brauche halt eben doch alle und das wichtigste sei ja, dass jeder und jede seine Meinung sagen dürfe. Und dass wir dann wieder vier Jahre dastehen in Bern wie die letzten Deppen. Vor einer Walze die alles bedroht, was uns lieb ist. Sagen wir es klar und deutlich: Die SVP ist hierzulande die grösste Bedrohung von Demokratie und Freiheit seit dem Fall der Mauer. Nicht die Flüchtlinge, nicht der IS, nicht sonst wer. Sondern die SVP – und alle Opportunisten, die mit ihr gehen.
Unsere Generation wird wieder um alles kämpfen müssen
Wenn du jetzt nicht stehen bleibst, liebe Zivilgesellschaft, dann ist es beim nächsten Mal zu spät. Die Initiative für den Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ist eingereicht. Die Initiative zur faktischen Abschaffung des Asylrechts wird kommen. Du wirst sehen. Die stellen die Armee an die Grenzen. Und dann wird die Forderungen kommen, sie zu bewaffnen. Und dann werden sie wollen, dass sie im Namen der christich-abendländischen Menschlichkeit nur noch Christen durchlassen. Und dann irgendwann, werden sie wollen, dass sie schiessen. Ja, du kannst das jetzt als Schwarzmaler abtun. Aber kannst du dich erinnern: Hast du vor zehn ernsthaft geglaubt, jemand würden eines Tages im vollen Ernst die Menschenrechtskonvention zur Debatte stellen? Lass‘ es mich zur Klarheit buchstabieren: die M-E-N-S-C-H-E-N-R-E-C-H-T-Skonvention. Nicht den Nachtzuschlag oder die Temp 30-Zone. Meine, unsere Generation wird wieder um alles, was uns selbstverständlich scheint kämpfen müssen. Um alles. Der Albtraum ist nicht zu Ende, er hat vielleicht erst gerade begonnen.
Und du musst dich entscheiden, ich brauche dich, wir brauchen dich, die Menschen brauchen dich. Jetzt. Wir schaffen es nicht alleine. Wir haben das Geld nicht, wir haben die Millionäre nicht, wir haben nur dich. Du musst jetzt bleiben. An den Universitäten, an den Berufs- und Mittelschulen, auf der Strasse, bei Facebook, auf SBB-Plakatwänden. In der Kultur, im Theater, im Rap, im Film, im Feuilleton… Überall dort, wo wir uns die letzten Monate getroffen haben. Es gibt kein „irgendwo dazwischen“ mehr. Wer nicht aufsteht gegen die rechtsextreme Bedrohung, der wird Teil von ihr. Das Schweigen der anderen bringt die Demokratie um, nicht die rechten Schreihälse.
Aus einer etwas grösseren Flughöhe ist es auch nicht ganz so überraschend, dass wir genau dieses Mal gewonnen haben. Vermeintlich ohne grossen Kampagnenmotor wie die Millionen von Economiesuisse (Menschenrechte und Rechtsstaat sind – Zitat – „nicht wirtschaftsrelevant“). Es war immer schon so. Gegen die Eliten – ja, die SVP ist zuerst einmal eine Partei der ökonomischen Elite – sind die Menschen immer nur dann erfolgreich, wenn sie zusammen aufstehen. Wir haben keine Banken, keine Vermögen, keinen Club am Rennweg, der uns finanziert. Der Abstimmungskampf hat eindrücklich gezeigt, was wir erreichen können, wenn wir unsere Rechte gemeinsam einfordern.
Schau, liebe Zivilgesellschaft, niemand sagt, dass wir uns nicht auch ab und an streiten werden. Müssen wir sogar. So zum Beispiel gibt es kein Ende der Angst in diesem Land und damit keinen auf Dauer siegreichen Aufstand der Anständigen gegen die SVP ohne ein Ende der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Und dafür braucht es ein Ende der Kumpanei der Wirtschaftsverbände und –parteien mit der SVP in diesen Politikfeldern. Und deshalb waren die Wirtschaftsverbände ja auch nur bescheiden amused, als du wieder aufgetaucht bist – sie haben jetzt Angst, es könnte dereinst auch ihre Privilegien treffen. Ich weiss, manchmal hörst du solche Sachen nicht gerne. Aber in einer ehrlichen Beziehungen muss man auch über solche Sachen reden. Aber lassen wir das für heute. Wir stehen das durch, in guten wie in schlechten Zeiten! Ich will ja nicht gleich heiraten, ich will nur, dass du da bleibst und mich bedanken. Du hast mir ein Stück der Hoffnung auf meine Schweiz, auf unsere Schweiz, zurückgeben.
See you soon!
P.s.Und falls du mir jetzt entgegenschleuderst: „Was willst du denn, dass ich jetzt mache?“, nun, das hier wäre ein Anfang.