Mittelstand? Bitte keinen Populismus der Mitte…

„Nein zum Bschiss am Mittelstand!“ Mit diesem sehr eingängigen Slogan hat die SP mit ihren Verbündeten einen der grössten Erfolge an der Urne der letzten Jahre eingefahren: das deutliche Nein zur Unternehmenssteurreform III. Der Slogan wollte im Wesentlichen sagen, dass die Mehrheit „da unten“ sich von der Minderheit „da oben“ nicht mehr länger finanziell hinters Licht führen, oder eben bescheissen lässt. Harte Worte für eine Partei, die sich in ihrer jüngeren Geschichte doch auch immer wieder die politische Korrektheit auf die Fahne schrieb.

 

„Nein zum Bschiss am Mittelstand“ – Ein Stück Linkspopulismus

Seit einigen Jahren gibt es in der europäischen Linken eine sehr lebhafte Debatte darum, wie sich die Linke nach der Finanzkrise von 2008 neu aufstellen muss. Insbesondere die neuen Linksparteien in den südeuropäischen Ländern argumentieren dabei für einen Linkspopulismus. Die Idee des „Linkspopulismus“ stammt von den beiden Philosophen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe.[1] Populismus ist für Laclau und Mouffe zunächst einmal die neutrale Beschreibung einer politischen Strategie. Eine Strategie, die versucht begrifflich wie politisch „das Volk“ (lat: populus) gegen „die Eliten“ aufzustellen.  Ihr Argument geht ungefähr wie folgt: Für die Linke gibt es keine „natürliche Basis“ mehr in der Gesellschaft. So wie das einst vielleicht die Arbeiterklasse war. Politische Macht baut heute vielmehr auf der Koalition einer Vielzahl von Interessen verschiedener Gruppen auf, die bestimmte Interessen und ein bestimmtes Verständnis davon teilen, wie die Welt funktionieren sollte. Eine solche Koalition nennt man in Anlehnung an den italienischen Theoretiker und Kommunisten Antonio Gramsci einen historischen Block.

Der Linken fehlt also eine quasi „natürliche“ Identität. Unter den Linken gibt es solche, die sich gegen die Ungleichheit und Ausbeutung einsetzen, Feministinnen und Feministen, Friedensbewegte, ökologisch Enagagierte, etc. All’ diese Linken haben zuerst mal keine gemeinsame Identität, auf die sie sich berufen können. Diese Identität, so die Idee, muss also durch politische Arbeit geschaffen werden. Es geht darum, ein gemeinsames Verständnis, eine Weltsicht und auch eine Begrifflichkeit zu entwickeln, die die verschiedenen „links sein“ zusammen bringt. Durch dieses Verständnis eines gemeinsamen „wir“, entsteht auch automatisch das „sie“. „Wir“ sind jene, die für die Interessen der Mehrheit, das Volk, die 99%, sprechen. Sie sind die Elite. Dieses Zusammenfassen des „wir“ als das Volk (populus) gegen das sie, nennen Mouffe und Laclau „Linkspopulismus“. Das „wir gegen sie“ geht in ihren neueren Schrift dann sogar soweit, dass die Grenzen zwischen „links“ und „rechts“gar  verschwinden. Die spanische Linkspartei „Podemos“ versucht das Konzept zumindest bis vor kurzem ziemlich theoriegetreu umzusetzen.[2] Und eigentlich will ja auch der Slogan „Nein zum Bschiss am Mittelstand“ nichts anderes. Er versucht einen begrifflichen Zusammenhang zu schaffen, zwischen der Mehrheit, also dem Wir, dem Mittelstand, und dem „sie“, also der Economiesuisse, den Grossunternehmen, der Elite, die uns bescheissen.

 

Mittelstand: Ein antilinkes Konzept

Der Versuch in dieser Kampagne war durchaus mutig, keine Frage. Er offenbart aber eben auch die jahrelang liegengebliebene Arbeit an der eigenen Gesellschaftsanalyse und Begriffsarbeit. Mit Verlaub, aber Mittelstand kann es nicht sein. Weder politisch, noch begrifflich. Die Sprachwissenschafterin Elisabeth Wehling weist in ihrem Buch „Politisches Framing“ darauf hin, dass jeder Begriff, den wir verwenden, ein grosses historisches Kapital mit sich schleppt.[3] Wenn wir „Schweiz“ sagen, verbinden Sprecherin und Hörerin damit mehr, als 40’000 Kilometer Grenze. Es sind gleichzeitig Emotionen, Bilder, Werte. Genauso ist es mit dem Mittelstand. Der Mittelstand ist ein Begriff, der irgendwann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmals auftaucht. Und zwar nicht per Zufall, sondern als Reaktion auf eine erstarkende Arbeiter_innenklasse und ihre politischen Organisationen, die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie. Diese nehmen in Anspruch, die grosse Mehrheit der Gesellschaft zu vertreten, nämlich all’ jene, die von Lohn (und später Rente) leben. Der Mittelstand sollte einen Keil treiben in das Ansinnen, eine Mehrheit der Gesellschaft hinter sich zu scharen. Er etabliert sprachlich und gedanklich die Idee einer Mitte, die sich anstrengt und „es geschafft“ hat. Die nicht zu den faulen Profiteuren in der sozialen Hängematte gehört – also nicht von staatlichen Transfers abhängig ist – aber auch Mass halten kann und nicht in den Verruf kommt, zu „denen oben“, den Abzockern, zu gehören. Ihnen aber letztendlich eben auch nicht gefährlich wird. Der Mittelstand bekommt so eine moralische Qualität, er ist der Ort des Guten in der Gesellschaft. Es ging den bürgerlichen Strategen immer genau darum, eine kollektive Identität gegen andere zu schaffen. Mit den Worten von Laclau und Mouffe: Einen Populismus der Mitte.

 

Unten gegen oben – aber richtig!

Heute hat der Mittelstand diese populistische Funktion nach wie vor. Der Begriff kommt mir manchmal fast religiös verklärt vor. Eigentlich weiss niemand so ganz genau, wer oder was dieser Mittelstand sein soll, aber alle reissen sich um ihn. Die politischen Probleme werden durch das Prisma „Was bedeutet das für den Mittelstand?“ angeschaut. Für die Linke ist das höchst problematisch. Sprache und Analyse lassen sich nicht trennen. Ich kann eine Gesellschaft nur in den Kategorien analysieren, die ich begrifflich fassen kann – und umgekehrt. Das verschleiert erstens den klaren Blick auf die Realität. Die Idee, wir seien heute alle Nutzniesser der sich immer weiter ausdehnenden „Mitte“, ist schlicht falsch. Nach üblicher, statistischer Definition in den meisten Studien gehören ca. 60% der Beschäftigten zum Mittelstand[4]. Das führt zu eher absurden Resultaten. Vergessen gehen die 20% klassische Arbeiter_innen in Industrie und Gewerbe und weitere ca. 40% Angestellte, denen jedes Privileg fehlt, dass man üblicherweise dem Mittelstand zuschreibt: Sie haben keine weitergehende Ausbildung, ihr Arbeitsfeld ist weitgehend fremdbestimmt, sie verdienen bescheidene Löhne zwischen 3500 und 6000 Franken und kommen damit nie dazu, auch nur ein bescheidenes Vermögen zu bilden.[5]

Zweitens bedeutet gesellschaftliche Probleme als Probleme des Mittelstandes zu begreifen, dann auch eine Logik, die gegen unten ausschliesst. Sie macht die Probleme der erwähnten Arbeiter, Angestellten, aber gerade auch der Armutsbetroffenen, der Arbeitslosen, der Asylsuchenenden, von Migrantinnen und Migranten, der Sans Papiers, der alleinerziehenden Frauen, der Working Poor zu Problemen zweiten Grades. Der Deutsche Soziologe Klaus Dörre hat an der Novemberveranstaltung von „Die Fraktion lädt ein“ auf die performative Kraft de politschen Sprache hingewiesen, wie man das nennt. Das die Politik also mit der Sprache, die sie wählt, ganze Gruppen in einer Gesellschaft ein- oder eben ausschliessen kann. Und, dass eben genau der „Mittelstandslobbyismus“ der grossen Volksparteien Raum geschaffen hat, für die neue Rechte. Es ist kein Zufall, dass diese europaweit gerade bei Arbeitslosen überdurchschnittlich Anklang findet: Sie fühlen sich schon rein sprachlich von der politischen Elite nicht mehr ernst genommen und mitgemeint.

Eine Mittelstandspolitik wird immer formuliert für die, die es aus eigener Kraft geschafft haben, für die „Leistungsträger_innen“. Gegen die, die es nicht selber geschafft haben. Genau diesen Effekt hat übrigens der 12. Februar im Kleinen bestätigt: Es war für den gleichen Mittelstand, der im Bausch und Bogen neue Steuerprivilegien für die oben abgelehnt hat, kein Problem, gleichzeitig im Aargau die Forderung nach Beihilfen für Familien in Armut und einen Ausbau der Arbeitslosenunterstützung und in Schwyz die Steuerbefreiung des Existenzminimums mit den gleichen Mehrheiten zu verwerfen. Natürlich gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen den Neins auf nationaler und kantonaler Ebene, aber beide Logiken – gegen unten und gegen oben – passen logisch zusammen. Die Idee des Mittelstandes, ist Populismus in Reinkultur. Tatsächlich hat in der Schweiz eine Partei diesen Populismus der Mitte perfektioniert – sie trägt einen Buchstaben mehr als wir in der Abkürzung schmückt sich mit dem Slogan „Die Partei des Mittelstandes“.

Es liegt mir fern, irgendjemandem die Freude über den 12. Februar verbieten zu wollen. Der Sieg war tatsächlich ein grosser, ja, ein historischer. Er hat das Potential, die finanz- und wirtschaftspolitischen Mehrheitsverhältnisse zumindest für diese Legislatur nachhaltig zu erschüttern. Bewegungen haben sich immer auf eine kollektive Identität berufen, war das nun die Klasse, die Nation oder das Volk. Und ja, natürlich fehlt der Linken heute diese Identität, diese heimatliche Zugehörigkeit. Und es ist absolut richtig, dass die Sozialdemokratie die Differenz zwischen „unten“ und „oben“, zwischen der Mehrheit und der Elite wieder vermehrt anspricht. In genau diese Richtung müssen wir uns weiter bewegen. Aber wir müssen uns auch bewusst sein, dass politische Sprache immer auch gesellschaftliche Realitäten mitformt, eben performativ wirkt. Und der Mittelstand formt sicher keine sozialdemokratischen Realitäten.

 

Dieser Artikel ist am 13. April im Links.ch erschienen. 

 

[1] vgl. zum Beispiel Laclau Ernesto (2005): On Populist Reason.

[2] Der Vordenker des linkspopulistischen Flügels von Podemos Íñigo Errejón

hat zusammen mit Chantal Mouffe ein Buche über diese Strategie geschrieben: Mouffe Chantal, Errejón Íñigo (2015): Construir pueblo.

[3] Wehling Elisabeth (2016): Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht.

[4] 70%-150% des Medianlohns

[5] Rieger Andreas, Pfister Pascal, Alleva Vania (2012): Verkannte Arbeit, Dienstleistungsangestellte in der Schweiz.

 

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