Publireportage statt Journalismus zur Altersreform 2020 bei der Aargauer Zeitung

Die Aargauer Zeitung titelte gestern zur Altersreform 2020 (21.6.17): „Rentner und Junge haben das Nachsehen“ (man beachte: Nicht als These, als Tatsache). Im Artikel wird dann eine Modellrechnung des Vermögenszentrums VZ geschildert, die im Wesentlichen zu den gleichen Schlüssel kommt, wie bisher jeder Propagandaangriff von rechts: Beschissen werden offenbar die Jungen und die aktuellen Rentner*innen. Warum das ganz grundlegend nicht stimmt und von einem blanken Unverständnis gegenüber der Logik des Rentensystems zeugt, habe ich versucht, hier darzulegen.

Einige Punkte der Berechnung im Artikel sind aber fragwürdig, nicht transparent ausgewiesen oder lassen sich aus dem Text nicht zweifelsfrei nachvollziehen:

  • Bei dem Beispiel des 35jährigen kommt das VZ auf eine Zusatzbelastung durch die Mehrwertsteuer von 5100 Franken. Was dabei nicht ausgewiesen wird: 2700.- kommen aus dem MWST-Anteil der heute der IV und in Zukunft der AHV zu Gute kommt, d.h., das bezahlen wir heute schon. Das gleiche gilt für das Beispiel des 45jährigen und der 70jährigen Rentnerin. Man kann so argumentieren, aber es ist nicht wirklich transparent ausgewiesen.
  • Das Beispiel des 35jährigen kommt auf eine Renteneinbusse von 2300 Franken. Diese Zahl ist aus dem Text nicht zu erschliessen. Die Berechnungen des BSV kommen zu anderen Schlüssen.
  • Das Bespiel für die AHV-Rente des Ehepaars (+40’800) ist zumindest unpräzise. Es ist unklar, mit welcher Lebenserwartung für den Mann gerechnet wird. Ich zumindest komme in verschiedenen Varianten auf andere Zahlen.

Also habe ich mich mit der Bitte um eine Darlegung der Berechnungsgrundlagen an die Aargauer Zeitung und den zuständigen Redaktor gewandet. Bereits die erste Antwort ist erstaunlich: Man könne mir die Daten, die den Rechnungen zu Grunde liegen nicht geben, weil man sie nicht kenne. Man müsse dazu beim Vermögenszentrum VZ nachfragen, das die Studie erstellt hat. Man muss sich eine Sekunde klar werden, was das heisst: Die Aargauer Zeitung greift die wichtigste Reform der Altersvorsorge seit 20 Jahren frontal an („Junge und Rentner haben das Nachsehen“), ohne, dass sie die Plausibilität der Studie selber hat prüfen können. Das VZ wäre zwar offenbar bereit, mir die Rechnung zu erklären, aber offenlegen will man die Grundlagen nicht.

Den Vogel schiesst der Artikel mit dem letzten Satz im Haupttext. Ich zitiere:

„Am besten ist es, sich möglichst früh mit dem Thema [Altersvorsorge] auseinanderzusetzen. Denn unabhängig von der Rentenreform kann die eigene Situation optimiert werden“, sagt Jan Theiler vom VZ.

Das muss man sich auf Zunge zergehen lassen: Ein vermeintlich unabhängiges Blatt zitiert eine geheime Studie von einem privaten Versicherungsanbieter mit DIREKTEN Interessen an einer Schwächung der staatlichen und betrieblichen Vorsorge. Das VZ bietet selber Beratung und Produkte für die private Vorsorge an. Diese lassen sich besser verkaufen, je mehr Panik um die Stabilität von 1. und 2. Säule entsteht. Das ist nicht Journalismus, das ist eine Publireportage. Wer so arbeitet braucht keine Hilfe dabei, die Glaubwürdigkeit der Presse vollends zu demolieren.

Ganz generell zu allen diesen Modellrechnungen muss man drei Dinge festhalten:

Erstens: Man kann mit den richtigen Annahmen und einem Modellhorizont von mehreren Jahrzehnten alles beweisen. Wenn man an den Annahmen über das Produktivitäts- und Lohnwachstum schraubt, falschen Vergleichen macht (wie die UBS), mit der Lebenserwartung rumspielt, kann jedes beliebige Resultat prognostiziert werden. Der Punkt ist: Schaut immer genau hin, wer die Studie bestellt und wer sie erstellt hat. Meist lässt sich damit ein Grossteil des Ergebnisses voraussagen.

Zweitens: Die AHV-Gesetzgebung wurde seit ihrer Einführung 1948 satte 45 Mal revidiert. Zehn Mal mit grösseren Revisionen (die erste Auflage der 11. Revision ist 2004 in der Volksabstimmung gescheitert). Das heisst im Schnitt erfolgt alle eineinhalb Jahre eine Gesetzesanpassung, alle sieben Jahre eine grössere Reform. Das hat nichts mit einer Politik zu tun, die sich „nicht an langfristige Reformen getraut“. Sondern mit der Einsicht, dass sich die Welt halt leider nicht an die Plüschtiermodelle der neoliberalen Ökonomen hält, mit der sich auf Grund gottgebener Naturgesetze des heiligen Marktes die menschliche Geschichte auf Jahrmillionen hinaus präzise voraussagen lässt. Genau das berücksichtigt die Altersform 2020. Sie setzt den Reformhorizont nicht weiter, als es Erfahrung und Vernunft gebieten: 10 Jahre für die Gesamtreform, 20 Jahr für die Übergangsgeneration. Das ist genau richtig.

Drittens: Daraus folgt auch, dass jeder Artikel, der an Hand der heutigen Reform die Renten für die 20, 30jährigen voraussagt, schlicht Chabis ist. Logisch versucht auch der Bundesrat die Effekte der Reform in Modellrechnungen aufzuzeigen, damit man versteht, wie sich die Beschlüsse auswirken. Das ist auch in Ordnung. Aber so zu tun, als könne man daraus bereits Schlüsse ziehen auf die effektive Rentensituation in 35 Jahren, ist schlicht unseriös. Bis meine Generation pensioniert wird, erfährt die Altersvorsorge statisch gesehen noch mindestens fünf Reformen. Darum ist es auch genau richtig, die Garantie für das BVG-Kapital „nur“ für eine Übergangsgeneration zwischen 45 und 65 zu geben.

 

P.s. Wer nachvollziehbare und transparente Fallbeispiele sehen möchte, kann hier nachschauen [PDF].

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