Rede zum 1. Mai 2012

„Einzelne Deutsche stören mich nicht. Mich stört die Masse“. Mit diesem Satz hat eine Nationalrätin aus diesem Kanton in den letzten Tagen die Öffentlichkeit in der Schweiz und Deutschland schockiert. Ich muss euch sagen, Genossinnen und Genossen, mir geht es genau wie Nathalie Rickli, einfach im Bezug auf sie und die SVP und nicht auf die Deutschen.

Etwas ernsthafter. Diese Aussage hat die deutsche Öffentlichkeit zu Recht schockiert und empört. Und die Deutschen haben ja wahrlich bereits Grund genug, sauer auf uns zu sein. Mitten in einer dramatischen Wirtschaftskrise in Europa versuchen Deutschland und die EU endlich das Steuerschlupfloch Schweizer Bankgeheimnis zu schliessen. Und die Schweiz versucht dies mit allen möglichen sauberen und unsauberen Tricks zu verhindern. Wir müssen dies einfach klar sehen: Das Bankgeheimnis hat überhaupt nichts mit dem ganzen Geschwafel von Privatsphäre oder Schutz des Bürgers zu tun. Es ist einzig und alleine dazu da, damit kriminelle Ausländer_innen zum Beispiel in Deutschland ihre eigenen Gesellschaften nach Strich und Faden bescheissen können. Die Zeche zahlen dürfen dann die deutschen Arbeitnehmer_innen, Student_innen und Rentner_innen. Das Bankgeheimnis ist kein nationales Heiligtum, es macht nur die Banken reicher und nicht die Menschen in der Schweiz. Es ist einzig und allein Beihilfe zur internationalen Kriminalität und als solche gehört es ausgeplaudert und ein für allemal abgeschafft.

Vor einiger Zeit hat der deutsche Sozialdemokrat Peer Steinbrück vorgeschlagen, man solle doch die Kavallerie in die Schweiz schicken. Damals war die Empörung in der Schweiz riesig. Und schon damals habe ich Peer Steinbrück und seine Wut auf die Schweizer Banken verteidigt, weil er Recht hatte. Aber dieses Mal würde ich den deutschen Genossinnen und Genossen vorschlagen, das ganze etwas lockerer zu sehen – zumindest, wenn es um die SVP geht.

Was wir nämlich dieser Tage erleben, ist der Beginn der Zerfallserscheinungen einer einst straff organisierten Partei. In Bern verletzten die Parteispitzen das Amts- und Bankgeheimnis, betrügen bei ihren eigenen Fraktionswahlen, bereichern sich an Erbschaften Dritter, lancieren in Basel mit Kinderschändern eine Volksinitiative und in meinem Kanton geben sie sich Mühe alle paar Monate mit einem neuen Skandal aufzuwarten: Ein Nationalrat, der Wucherzinsen verlangt, eine Sektion, die Werbung macht mit Flyern, auf denen steht „Drecks Jugos“ und „Sau Türken“, mit einem bekannten Raser auf der Grossratsliste und jüngst mit einem Mandatsträger, der auf offener Strasse seine Schwester verprügelt. In diesem Zusammenhang ist auch die neuste Eskapade gegen die Deutschen zu verstehen. Es ist der Griff einer schlingernden Partei nach dem letzten, vermeintlichen Strohhalm: Nach dem offenen Rassismus.

Was die extreme Rechte in diesem Land am meisten stört, ist, dass ihr einfaches Weltbild ins Schlingern gerät. Bis vor kurzem war ihre Botschaft einfach: Gegen oben – gegen die Manager, Banker, Abzocker, Chefs und Wirtschaftsführer – sollt ihr brav kuschen und dafür gegen unten, gegen jene, die sich eh nicht wehren können – gegen Invalide, gegen Muslime, gegen Ausländerinnen und Ausländer, gegen Asylsuchende – so fest treten, wie ihr nur könnt. Und wenn ihr uns brav folgt, dann fallen auch für euch ein paar Brosamen ab. Dumm nur, dass sich dieses Programm zunehmend als kapitale Lüge entpuppt.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund veröffentliche vor wenigen Tagen zum zweiten Mal seinen Bericht zur Lohn- und Vermögensverteilung in diesem Land. Die Zahlen sind schockierend. Obwohl die gesamtwirtschaftliche Produktivität seit 1994 um etwa 17% zugenommen hat, sind die Löhne der unteren und mittleren Einkommen in den vergangenen zehn Jahren im Schnitt um etwa 6-9% gestiegen. Die Löhne der 1%-Topverdiener_innen allerdings sind um 35% explodiert. Der Anteil der Personen mit Löhnen über einer halben Millionen Franken hat um 331% zugenommen, die Löhne über 1 Million um sagenhafte 454% – und das, Genossinnen und Genossen, notabene während es in diesem Land immer noch 400’000 Menschen gibt, die weniger als 3500 Franken monatlich verdienen. Das ist schon empörend, aber es kommt noch dicker.

Die bürgerliche Steuer- und Wirtschaftspolitik, ihre immer neuen Anläufe für Steuersenkungen für Superreiche und Abbauprogramme beim Staat, haben Wirkung gezeigt. Nach Abzug der Steuern, Abgaben, Mieten und Kopfprämien bei den Krankenkassen bleiben heute für die ärmsten 10% sage und schreibe 1300 Franken weniger verfügbares Einkommen im Portemonnaie als noch vor zehn Jahren. Aber nicht nur dort, bei der Mittelklasse sind es 300 Franken weniger! Anders ganz oben: Das Top-10% der Lohnverdiener_innen hat heute 6900 Franken mehr in der Tasche, das Top-1% sogar sagenhafte 23’700 Franken. Wer bereits vorher hatte, dem wird gegeben, der Rest darf es bezahlen. Im Klartext, heisst das, dass sie es geschafft haben, unseren Staat so einzurichten, dass nicht Geld von oben nach unten umverteilt wird, sondern eben genau umgekehrt.

Genossinnen und Genossen, die Steuerpolitik der bürgerlichen Mehrheit hat uns heute an den unglaublichen Punkt gebracht, wo das reichste Prozent der Bevölkerung mehr Vermögen besitzt als wir alle anderen zusammen. Alleine die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer haben ihr Vermögen von 2007 bis 2011 von 460 auf 480 Milliarden vergrössert, 2012 dürften sie gegen die 500 Milliarden Schweizer Franken erreichen – und das mitten in der Krise. Und wenn jetzt einer kommt und uns erzählt, wir hätte kein Geld mehr für die AHV, die IV, die Arbeitslosenversicherung, Bildung, Energiewende oder Renten, dann müssen wir ihnen am 1. Mai in aller Deutlichkeit antworten: Wir sind nicht bereit zu akzeptieren, dass wir es sind –  die Arbeitnehmenden, die Student_innen, die Arbeitslosen, die Familien – dass wir es sind, die für diese Krise bezahlen sollen. Dieser Raubzug an unserer Gesellschaft durch die oberen 10’000 gehört gestoppt und subito umgekehrt.

Es geht hier nicht um eine Neiddebatte. Es geht um Gerechtigkeit und es geht um ökonomische Rationalität. Denn genau die Rezepte, die die Rechte jetzt in ganz Europa und der Schweiz versucht als Massnahme gegen die Krise zu verkaufen, haben die Krise überhaupt erst verursacht. Es ist manchmal beeindruckend, wie schnell die Kommentatoren und politischen Meinungsmacher vergessen. Der Schuldige für die Krise in Europa scheint allgemein bestimmt: Es waren die Griechen, weil sie so faul sind, und es war der Sozialstaat, weil er viel zu gross geworden ist, weil er viel zu viel Geld ausgegeben hat und weil die Leute „über ihren Verhältnissen“ gelebt haben. Stimmt, Griechenland dürfte nach den schlimmsten Schätzungen aktuell eine Schuldenquote irgendwo über 150% des Bruttoinlandprodukts aufweisen. Nun, Genossinnen und Genossen, diese Erklärung klingt zwar sehr logisch und sie macht die Sache einfach, weil man den Schuldigen eindeutig identifizieren kann. Sie hat dummerweise aber einen kleinen Haken: Sie ist nämlich schlichtweg falsch. Die faulen Griech_innen arbeiten im Schnitt 44.3 Stunden pro Woche, Schweizer_innen und Deutsche 42 Stunden. Die Jahresarbeitszeit beträgt in Griechenland 2100 Stunden, in der Schweiz und Deutschland 1600, resp. 1400 Stunden. Das griechische, reale Pensionsalter liegt bei 61.9 Jahren, in der Schweiz etwas höher, in Deutschland bei 61.8, in Österreich bei 58.9.

Die bürgerlichen Regierungen und ihre neoliberalen Ökonom_innen versuchen ganz bewusst, die Ursachen der europäischen und weltweiten Finanzkrise zu ihren Gunsten umzudeuten. Natürlich ist Griechenland ein korrupter Staat, natürlich zahlen tausende Millionäre gar keine Steuern und natürlich verschwendet Griechenland sinnlos Geld für die Rüstung ihrer Armee. Aber, warum Genossinnen und Genossen, springt die griechische Verschuldung zwischen 2006 und 2012 um 40% an, nachdem sie vorher sogar leicht gesunken ist? Haben sich alle griechischen Arbeitnehmenden tatsächlich verschworen und sich frühverrenten lassen, um den Sozialstaat zu Fall zu bringen? Wohl kaum.

Was dazwischen kam, das war nichts anderes als die Bankenkrise, als die Staaten eine ganze Branche über Nacht vor dem Kollaps retten mussten. Und diese Bankenkrise ist nicht ausgebrochen, weil ein paar Leute ein paar Boni zuviel bezahlt haben, sondern weil genau diese jahrelange Politik von dauernden Steuersenkungen, von Leistungsabbau von Privatisierungen und Liberalisierungen dazu geführt hat, dass die weltweiten Vermögen in den Händen weniger geradezu explodiert sind. Und weil dieses Kapital in der Realwirtschaft gar nicht mehr angelegt werden konnte, haben sie es an der Börse verzockt. Am Anfang dieser Krise steht bereits die Ungleichheit. Bertolt Brecht hat im Leben des Galilei geschrieben „Wer die Wahrheit nicht weiss, ist nur ein Dummkopf. Aber wer sie weiss und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher“. Wer heute zur Überwindung der Krise noch mehr Ungleichheit fordert, noch mehr Steuergeschenke für Superreiche und Grossunternehmen, der hat überhaupt nichts verstanden oder er ist ein ökonomischer Brandstifter. Und Brandstiftung ist bekanntlich ein Verbrechen.

Island hat gerade eben seinem ehemaligen Premierminister wegen Unterlassung in Sachen Finanzkrise den Prozess gemacht. Das ist kein Witz! Der Herr wurde zwar freigesprochen, aber ich frage mich schon, ob das nicht hierzulande mal einen Versuch wert wäre, die Herren in den Chefetagen der Grossbanken und in Bern zur Verantwortung zu ziehen. Eventuell wäre das sogar ein ideales Beschäftigungsprogramm für die Armee, solange sie noch vergeblich auf ihre neuen Kampfjets warten müssen. Eine kleine Klammerbemerkung dazu. Liebe Genossinnen und Genossen, wird werden in den nächsten vier Jahren in Bern die Weltrevolution nicht ausrufen können. Aber eines kann ich euch garantieren: So lange es noch Sozialdemokrat_innen im Parlament gibt, solange wird sich die Armee ihre Spielzeuge für die Luftwaffe aus Legobausteinen zusammenstellen müssen und kriegt sicher keine Steuergelder dafür!

Genossinnen und Genossen, es kommt Bewegung ins Land. Die Masken bei der politischen Rechten sind am fallen. Dieses Fenster müssen wir nutzen. Und wir nutzen es: Mit wenigen Ausnahmen haben wir seit zwei Jahren alle kantonalen Wahlen gewonnen (in Zürich leider noch nicht), im ehemals stockkonservativen Freiburg und im Aargau haben wir mit dem Präsidenten der Partei und mit einer Vizepräsidentin den Ständerat erobert, in der Ostschweiz haben wir es sogar geschafft, in einem Landkanton wie St. Gallen gleich zweimal hinter einander die SVP in ihren Stammlanden im direkten Duell zu schlagen, zuerst bei den Ständeratswahlen mit dem Gewerkschafter Paul Rechsteiner und vergangenen Sonntag mit Fredy Fässler bei den Regierungsratswahlen. Wir haben die Wahlen in Fribourg, in der Waadt, in Neuchâtel, in Uri, in Schwyz, in Luzern und sogar im Thurgau gewonnen.

Jahrelang hat die politische Rechte dieses Land gespalten. In Schweizer_innen und Ausländer_innen, in Gesunde und Invalide, in Christ_innen und Muslim_innen, in unten und oben. Und jahrelang habe sie uns gesagt wir hätten keine Ahnung von Leistung, von Effizienz und von Wirtschaft. Jetzt bricht ihr jämmerliches Schauspiel in sich zusammen, wie ein Kartenhaus.

Und wenn sie jetzt in der Krise wieder kommen und uns sagen, wir seien Naivlinge, Idealist_innen, Weltverbesser_innen und Utopist_innen, nur weil wir daran glauben, dass eine andere Welt, eine bessere Schweiz, eine Schweiz der Freiheit, der Gleichheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität, eine Schweiz für alle statt nur für ein paar wenige möglich sein soll – dann ist der Moment gekommen, wo wir ihnen antworten. Ja, dann sind wir eben naive Utopisten, Idealist_innen und Weltverbesser_innen – und wir sind verdammt noch einmal stolz darauf. Einen schönen ersten Mai!

Alle Quellenverweise sind in der [Datei 29|“PDF-Version“] aufgeführt.

Die Rede zum 1. Mai 2012 kann hier nachgelesen werden: http://www.cedricwermuth.ch/storage/files/29.pdf

Die Zürichsee-Zeitung hat über meinen Auftritt berichtet.

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