Wir befinden uns in Europa in einer Zeit der multiplen Krisen: Klimakrise, Umweltkrise, Finanzkrise, Flüchtlingskrise. Wählen Sie aus, was Sie wollen. Eine der grössten Krisen, mit der und mit deren Ursachen wir uns in Europa und in der Schweiz beschäftigen müssen, ist sicher der grassierende Fremdenhass, der Nationalismus. Dieser hat seine Basis in der fundamentalen Logik, nach welcher der real existierende Kapitalismus funktioniert. Indem diese historische Phase die Produzentinnen und Produzenten von den Arbeits- und Produktionsmitteln getrennt hat, indem also die einen besitzen und die anderen – die grosse Mehrheit – dazu verdammt sind, ihre Arbeitskraft durch Lohnarbeit zu verkaufen, schafft der Kapitalismus eine Situation der permanenten Unsicherheit. Diese Situation der permanenten sozialen und ökonomischen Unsicherheit bildet die Grundlage für das, was den Kapitalismus am Schluss zusammenhält: die Angst. Die Angst vor dem sozialen Abstieg, die Angst vor dem ökonomischen Verlust, die Angst davor, dass man sich die Sozialversicherungen nicht mehr leisten kann.
Zu dieser Angst kommt das Gefühl der Ohnmacht, das Gefühl der politischen Ohnmacht bei einer Finanzkrise, die über uns hereinbricht, bei einer Klimakrise, bei einer Flüchtlingskrise.
Dieser toxische Cocktail ist die Grundlage für die fremdenfeindliche Politik, die dieses Land erfasst hat, für kollektive Wutanfälle, wie wir sie in letzter Zeit an der Urne mehrfach erlebt haben. Er ist die Grundlage für eine politische Strategie, die davon profitiert, indem sie sagt: Schuld an der Schmälerung der Aussichten sind immer die da unten, die Scheininvaliden usw., und vor allem die Ausländer. Sie sagt das, um zu verhindern, dass man sich bei der sozialen Frage gegen die da oben wendet, gegen die Eliten.
Davor haben Sie Angst. Deshalb wird diese Debatte so emotional geführt. Sie sind aus dem gleichen Grund gegen diese Idee, aus dem Sie auch gegen Mindestlöhne sind, gegen den Sozialstaat antreten, die Altersreform in diesem Land unter Beschuss nehmen. Sie sind gegen diese Idee, weil sie Sie daran hindert, die Menschen nach der angetönten Logik effizient auszubeuten.
Die Initiative schlägt leider kein konkretes Modell vor. Man kann grundsätzlich drei Modelle eines Grundeinkommens unterscheiden: ein neoliberales, ein sozialliberales und ein emanzipatorisches. Das neoliberale, wie es hier zum Teil unterstellt wird, ist durch den Text der Initiative klar ausgeschlossen. Für das emanzipatorische würde ich mich gerne starkmachen, leider wird es mit dem Text nicht klar erfasst.
Wenn das Grundeinkommen tatsächlich eine Alternative zum Zwang zur Lohnarbeit wäre, dann wäre es – dies sage ich vor allem an die Adresse der geschätzten Kollegen und Kolleginnen der liberalen Mitte – eine Weiterentwicklung des Konzeptes der Freiheit. Ich bin sehr überrascht, mit welch negativer Anthropologie hier vor allem diejenigen, die für sich den Begriff „liberal“ in Anspruch nehmen, zu diesem Saal sprechen. Sie tun, als bräuchten die Menschen Zuckerbrot und Peitsche, damit sie sich sozial sinnvoll in der Erwerbsarbeit engagieren. Das widerspricht dem fundamentalen liberalen Konzept der Selbstverantwortung, der Idee, dass die Menschen fähig sind, ihre eigene Zukunft in die Hand zu nehmen.
Wenn Sie mir noch ein letztes Wort erlauben: Ich habe grosse Mühe mit dem Begriff der Leistungsgesellschaft, wie er hier vorne auch unter dem Titel „Leistungsträger“ heute gepredigt wurde. Die meisten haben ja vor allem sich selber gemeint, als sie hier am Pult von Leistungsträgern gesprochen haben. Aber empfinden Sie es nicht ein bisschen als Hohn, in einer Gesellschaft, in der die Hälfte aller vererbten Volumen inzwischen an Millionärinnen und Millionäre geht, den Menschen, die 4500 Franken verdienen, zu sagen: Das sind die Leistungsträgerinnen und Leistungsträger, und ihr dort unten habt euch halt in der Erwerbsarbeit zu wenig engagiert? Ich glaube nicht, dass das die Logik ist, auf die wir uns einlassen dürfen.
Zum Schluss möchte ich noch einen Satz zu jenen sagen, die erklärt haben, sie möchten diese Initiative im Prinzip unterstützen, aber sie finden, dass der Text nicht ideal formuliert ist. Mir geht es gleich. Nur: Wenn die Initiative in der Bevölkerung eine Mehrheit finden sollte, dann hätten wir in einer Referendumsabstimmung logischerweise auch eine Mehrheit, um eine Umsetzung zu verhindern, die eben nicht diesem emanzipatorischen Ideal entspräche.
Die Initiative greift übrigens Konzepte auf, wie es sie in Europa inzwischen überall gibt: Die finnische Regierung hat in ihrer Regierungerklärung festgehalten, man wolle die Einführung des Konzeptes prüfen, Spanien hat zu diesem Zweck eine parlamentarische Kommission eingesetzt. Brasilien hat bereits 2003 eine entsprechende Gesetzgebung verabschiedet. Wagen Sie diesen Schritt für mehr Freiheit, es ist ein spannendes Experiment.
In diesem Sinne werde ich die Initiative heute mit ein paar Vorbehalten zur Annahme empfehlen.
Diese Rede wurde am 23.09.2015 im Nationalrat gehalten. Quelle: Amtliches Bulletin.