Ich werde mir die zweifelhafte Ehre nicht nehmen lassen, als erster Redner heute Morgen einen Fussballvergleich zu machen, auch wenn wir noch nicht ganz in der WM sind. Wären wir dort, ironischerweise in Russland, und wäre die Debatte hier eine Fussballpartie, dann lautete die Affiche eindeutig: Die SVP gegen das Volk.
Es ist keine neue Erfindung, gerade in liberalen Staaten, dass sich die Herrschaftseliten immer dann gegen die Grundrechte der eigenen Bürgerinnen und Bürger wenden, wenn der Staat selber in einer Legitimationskrise ist. Vor ziemlich genau 225 Jahren, am 31. Mai 1793, wagt die Bewegung der Sansculotte in Paris den Aufstand gegen die revolutionäre Regierung Frankreichs. Der junge Staat schlägt mit bis dahin nicht gekannter Repression zurück. Der jakobinische Terror fordert in den folgenden Jahren zwischen 25 000 und 40 000 Todesopfer. Maximilien de Robespierre begründet diesen Terror vor dem Konvent dann mit zwei Dingen: einerseits damit, dass er ja demokratisch legitimiert sei von der Mehrheit der Bevölkerung, und zweitens damit, dass der höhere Sinn von Staat, Revolution und Regierung darin bestehe, die Tugend in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Er zieht eigentlich eine vormoderne Begründung heran, eine vorliberale Begründung, um die Grundrechte der Einzelnen ausser Kraft zu setzen, die eben erst dem Adel in blutigen Kämpfen abgerungen worden waren.
Das ist genau der Geist, den die Selbstbestimmungs-Initiative atmet. Im Argumentarium auf der Webseite steht bezeichnenderweise der schöne Satz, die Souveränität des Volkes sei die Voraussetzung für die Freiheit des Einzelnen. Es ist exakt umgekehrt: Es ist die Freiheit des Einzelnen, die die unabdingbare Voraussetzung ist für die Souveränität von Volk und Staat. Das ist im Übrigen auch die einzige zulässige Begründung für die Existenz eines liberalen Staates. Der liberale Staat hat – nie – einen Auftrag, der die Gesellschaft und den Staat über und vor die Rechte des Einzelnen stellt!
Wenn die Geschichte von zweihundert Jahren Demokratie in Europa etwas lehrt, dann ist es genau das: dass Demokratie und der Schutz der Freiheit eben mehr sind als einfach die Willkürherrschaft der Mehrheit über die Minderheit, über das Volk und über das Einzelne, sondern dass es eine Gleich-Ursprünglichkeit gibt zwischen Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten, die es eben anzuerkennen gilt. Dazu gehört selbstverständlich auch eine überstaatliche Sicherung dieser Grundrechte durch eine europäische Charta. Sie ist nicht per Zufall auf diesem Kontinent entstanden.
Es ist schon bezeichnend, dass die Initiative ausgerechnet aus Ihren Kreisen kommt, aus der SVP, aus Kreisen, die überall und andauernd Demokratie und Freiheit durch Feinde von aussen bedroht sehen, sei es durch Brüssel, sei es durch Strassburg, sei es durch Ausländerinnen und Ausländer oder durch andere Kulturen in diesem Land. Faktisch ist aber nicht das die grösste Bedrohung für Demokratie und Freiheit in diesem Land. Faktisch sind Sie es, meine Damen und Herren von der SVP. Ihre Initiativen sind es, die versuchen, Demokratie und Rechtsstaat zu trennen. Das ist die grösste Bedrohung seit dem Fall des Eisernen Vorhangs für die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land.
In diesem Sinne bitte ich Sie in diesem Saal, dieser Initiative eine klare Abfuhr zu erteilen.
Erlauben Sie mir am Schluss noch eine Bemerkung, Herr Kollege Aeschi: Wenn Sie schon alt Bundesrichter zitieren, dann tun Sie es richtig. Herr alt Bundesrichter Schubarth lehnt Ihre Initiative ab, weil er einen Unterschied sieht zwischen der materiellen Kritik an den Entscheiden des EGMR und der Möglichkeit, die Europäische Menschenrechtskonvention zu kündigen. Genau das sollten wir auch tun. Sie machen mit dieser Initiative ein Problem auf, das nicht existiert. Tatsächlich haben die Institutionen in diesem Land bewiesen, dass sie bestens in der Lage sind, umstrittene Entscheide eben im Dialog umzusetzen.