Ich möchte in den nächsten Minuten eine Art Bilanz ziehen, über die letzten beiden Jahre. Die Zeit, in der wir leben, scheint verrückt zu spielen. Was in den letzten 2-3 Jahren passiert ist, hat nicht weniger als das Selbstverständnis und die Geschichte einer ganzen Nation auf den Kopf gestellt. Die „Krise“ hat unser aller Bild der Welt verändert. Heute, zwei Jahre nach den ersten Bankrottankündigungen von amerikanischen Banken, ist die Bilanz verheerend:
- Zig tausende Menschen haben alles verloren: Ihre Häuser, ihre Pensionskassen, ihre Arbeitsplätze.
- Zig tausende KMUs mussten schliessen.
- Unsere Demokratie wurde zur Farce: Eine einzige Grossbank konnte ein ganzes Land in die Knie zwingen und noch heute sitzt die Nationalbank auf den toxischen Papier und macht Verluste.
- Ganze Staaten wie Griechenland oder Spanien werden von einer Hand voll von Spekulanten in den Abgrund getrieben und die Welt schaut zu.
Diese Krise ist die Folge einer bewussten Politik. Einer Politik, die die bürgerliche Mehrheit auch hier voran getrieben hat: „Mehr Freiheit, weniger Staat“ lautete ihr Credo und war damit direkt gegen die Demokratie gerichtet. Gemeint war damit nichts anderes als der grösste Angriff auf die Demokratie seit dem Faschismus. Mehr Freiheit zur Ausbeutung, weniger nervige Demokratie, weniger Umverteilung, weniger Sozialstaat, weniger Arbeitsrechte, weniger Kontrolle, mehr für ein paar wenige. 2/3 des Schweizer Parlamentes haben sich von der Grossfinanz und den Banken kaufen lassen und dafür die heilige Dreifaltigkeit des Neoliberalismus nach gebetet: „Privatisierung, Liberalisierung, Deregulierung“. Die weltweiten Finanzmärkte sollten für das globale Kapital geöffnet werden, damit dieses international auf die Suche nach Renditen gehen kann. Natürlich nur zu unserem besten. Und tatsächlich: Die weltweite Wirtschaft wuchs und wuchs. Sie wuchs sprichwörtlich über sich selber hinaus. Kritik an den Wirtschaftsführern und ihren Dogmen war verboten. Dann kam, was kommen musste: Das System ist implodiert, plötzlich ist der ganze Hokuspokus in sich zusammen gefallen. Was dann passiert ist, wisst ihr alle, ich will euch nicht damit langweilen.
Und jetzt, was passiert jetzt? Nein, es ist nicht etwa so, dass da oben ein Denkprozess eingesetzt hätte. Die Bürgerlichen machen Business aus usual – die Parteispenden fliessen ja auch schon wieder kräftig. Und schlimmer noch: Bezahlen sollen die Krise die Leute, die am wenigsten dafür können. Während die Aktienkurse der Banken durchschnittlich bereits wieder um 40% zugelegt – und damit die neue Blase bereits am entstehen ist – und die Abzocker bereits fette Gewinne einstreichen, soll die Mehrheit die Folgen der Krise mit Abbau bei den Sozialwerken, mit Lohnkürzungen und Arbeitslosigkeit bezahlen. Die ALV soll auf dem Rücken der Jungen saniert werden, die AHV zu Lasten der Frauen abgebaut werden. Eine erste Antwort auf diese Arroganz und das offensichtliche Scheitern der bürgerlichen Politik haben wir am letzten Sonntag zusammen mit dem Schweizer Volk gegeben: Und was für eine! Mit einem beeindruckenden Abstimmungskampf haben wir mit sagenhaften 73% Nein zum BVG-Umwandlungssatz verhindert, dass die Chefetage ihre Verluste an die Versicherten auslagert. Genossinnen und Genossen, unterschätzen wir nicht, was da passiert ist. Zum ersten Mal seit der Bankenkrise hat sich die Bevölkerung getraut, zu sagen „nein, eure Krise zahlen wir nicht mehr!“
Trotzdem beschleicht mich ein ungutes Gefühl, wenn ich versuche mir klar zu werden, wo wir heute stehen. Noch vor zwei Jahren waren wir allesamt überzeugt: Der Neoliberalismus, diese extreme Form des weltweiten ökonomischen Kannibalismus, ist tot. Heute müssen wir feststellen: Die Bestie lebt – und sie ist mancherorts sogar fester im Sattel denn je zuvor. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass das, was wir Krise nennen, nur der Kulminationspunkt dieses weltweiten Kannibalismus ist. Für die Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten ist die Welt schon seit Jahrzehnten in der Krise:
- 1000 Millionen Menschen weltweit sind heute chronisch unterernährt. 40 Millionen sterben jedes Jahr an Hunger und seinen Folgen Und dies obwohl erstmals in der Menschheitsgeschichte die Weltwirtschaft problemlos fähig wäre, 12 Milliarden Menschen zu ernähren.
- 1000 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, 2500 Millionen leben ohne sanitäre Einrichtungen.
- Die Hälfte der Weltbevölkerung – 3.5 Milliarden Menschen – leben in in bitterster Armut.
- Und gleichzeitig besitzt das reichste Prozent der Weltbevölkerung 40% des gesamten Weltvermögens. 10% besitzen bereits 85% des gesamten Vermögens.
- Und von der unglaublichen Zerstörung unserer natürlichen Ressourcen haben wir noch gar nicht gesprochen.
Eigentlich ist diese Feststellung nichts neues. Schon 120 Jahre vor uns haben einige Menschen in diesem Land festgestellt, dass irgendetwas schief läuft. Die Sozialdemokratische Partei in der Schweiz wurde 1888 gegründet, also fast genau 100 Jahre nach der Französischen Revolution und 120 Jahre nach der Amerikanischen Revolution. Sie wurde gegründet von einer Gruppe von Frauen und Männern, die allesamt das gleiche festgestellt hatten. Die beiden grossen Revolutionen hatten den Menschen ein Versprechen auf Veränderung abgegeben – die Amerikanische Verfassung sagt, dass „alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie […] mit gewissen unveräusserlichen Rechten begabt wurden, worunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit sind“. Die französische Revolution von 1789 giesst dieses Versprechen in die bekannte Form „Liberté, Egalité, Fraternité – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. Mit einem Wort, die Revolutionen forderten das, was das Wort „Demokratie – die Herrschaft durch und für das Volk“ verspricht. Doch davon schien die Schweiz, Europa und die Welt noch weit entfernt. Stattdessen stellten sie fest, dass die Mehrheit der Menschen nach wie vor in einer Welt zu leben hat, die für sie vor allem aus Ausbeutung, Zwang und Willkür besteht. Und die sozialdemokratische Bewegung in der ganzen Welt hat sich aufgemacht, für die Einlösung von diesem Versprechen zu kämpfen. Bereits 1848 wird in der Schweiz mit der Gründung des Bundesstaates der Grundstein für die politische Befreiung gesetzt. 1918 sind die Gewerkschaften und die Partei im Landesstreik aufgestanden, für die ökonomische Befreiung der Menschen von Zwang, Ausbeutung und Willkür zu kämpfen. 1968 und 1971 hat die Bewegung den „Staub von 1000 Jahren unter den Talaren“ weggefegt und für die soziale Freiheit und die Freiheit der Frauen gekämpft.
Und eben 120 Jahre später stellen wir fest, wir sind immer noch am gleichen Punkt. Wir leben weiterhin in einer Welt, die gezeichnet ist von Willkür, Ausbeutung und Zwang. Warum also sieht die Welt noch immer aus, wie sie aussieht? Die Antwort darauf ist so alt wie die SP selber. Wir Leben in einem System, das die einen zwingt, die anderen auszubeuten. Dass die Unternehmen und Manager zwingt im Namen einer kleinen Schicht immer schneller immer mehr Rendite zu erwirtschaften mit immer tieferen Löhnen und immer weniger Rücksicht auf soziale und natürliche Ressourcen. Und warum ändert dann niemand etwas daran?
Über die Hälfte des Weltbruttosozialproduktes wird von den 500 grössten Konzernen kontrolliert. Unter den 100 grössten Wirtschaftseinheiten unseres Planeten befinden sich 51 Konzerne und 49 staatliche Regierungen. Einzelne Unternehmen – wie die UBS– können ganze Staaten und Völker in die Knie zwingen, wie hier in der Schweiz eben erst geschehen. Die Macht, die das Privatkapital in den letzten Jahrzehnten zusammengerauft hat, ist unglaublich: Kein historisches System hat den Planeten bisher so fest im Griff gehabt. Genossinnen und Genossen, immer wieder höre ich die Frage: Warum konnte die Linke und vor allem die Sozialdemokratie nicht mehr aus dieser Krise machen? Warum sind die Menschen nicht in Scharen zu uns geströmt, als die neoliberale Lüge zusammen gebrochen ist? Weil wir auf die Krise, die jetzt eben auch den kapitalistischen Norden erreicht hat, keine Antwort geben konnten, weil wir keine hatten. Weil wir wahrscheinlich – bis vor kurzem – in der grössten Identitätskrise seit den Anfangstagen unserer Bewegung steckten. Vor 30 Jahren hat der Neoliberalismus weltweit seinen Durchbruch erreicht. TINA – There is no alternative war das Motto. Weil wir uns nicht mehr getraut haben, das zu tun, was einst die Idee der Sozialdemokratie gewesen war: Nämlich an eine andere Welt zu denken. Das muss sich ab heute ändern.
Genossinnen und Genossen, wenn wir an den zentralen Werten unserer Bewegung, an Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit und Solidarität festhalten wollen, dann gibt es keine Alternative, dann ist die Perspektive für unsere Bewegung klar. Der nächste grosse Schritt, den wir anstreben, kann nur die Befreiung der Menschen von wirtschaftlichem Zwang, Willkür und Ausbeutung sein. Dieses System wird sich nie anders verhalten, solange es gegen die Interessen der Mehrheit gerichtet ist. In einem hat der Kapitalismus eben recht: Wer besitzt, befiehlt. Wir aber müssen heute wieder den Anspruch stellen, das Versprechen der Demokratie zu erfüllen.
Mit einem Wort: Unser nächstes Ziel kann nur das Ende dieses absurden Systems, das Ende des Kapitalismus sein. Und Kapitalismus überwinden heisst eben genau, die Ausbeutung beenden, die Herrschaft von einigen wenigen über viele zu beenden. Wir müssen wieder die demokratische Kontrolle der Wirtschaftsmacht fordern. Das ist die Antwort auf die Krise, die uns bisher gefehlt hat. Den Kapitalismus abschaffen, heisst, den Menschen wieder Hoffnung zu geben. Diese Antwort muss und kann jetzt kommen. Es ist ein grosser Schritt für uns, aber es wäre ein grosser Schritt für die Menschen. Und die JUSO Schweiz hat bereits den ersten kleinen Schritt in diese Richtung gemacht, wir stehen am Anfang einer neuen Sozialdemokratie. Unsere 1:12 Initiative ist die erste, die sich getraut wieder die Machtfrage ins Zentrum zu stellen. Noch vor zwei Jahren hätte man uns erklärt, wir seien unverbesserliche TräumerInnen. Heute haben sie Angst. Ganz deutlich: Wenn der Oberpatron der nationalistischen Rechten plötzlich anfängt gegen Abzocker zu wettern, dann hat das zwar wenig mit Einsicht oder ehrlicher Besserung seinerseits zu tun. Aber damit, dass sich die Zeiten geändert hat. Heute muss sich rechtfertigen, wer den Kapitalismus noch verteidigt. Vielleicht hat die Veränderung bereits begonnen, ohne dass das die Parteien wirklich wahrgenommen haben. Es ist aber an uns, Genossinnen und Genossen, die Hoffnung und die Vision einer anderen Welt für die Leute konkret greifbar zu machen. Unsere tagtägliche Politik muss sich wieder trauen, sich an der Alternative zu orientieren, an der Vision.
Aber es reicht nicht, Genossinnen und Genossen, wenn wir alleine stehen. Wir müssen unsere Bewegung mitreissen. Und es bietet sich eine grosse Chance: Noch diesen Frühling will unsere Mutterpartei mit der Revision ihres Parteiprogrammes beginnen und bis im Herbst soll der Prozess abgeschlossen sein. Dieses neue Parteiprogramm muss ein neues Selbstbewusstsein unserer Bewegung verkörpern. Egal woher wir kommen, ob als Marxistinnen oder Marxisten, als religiöse Sozialistinnen und Sozialisten, als Kämpferinnen und Kämpfer der Friedens- und Antikriegsbewegung, als Altermondistinnen und Altermondialisten, als Kämpferinnen und Kämpfer gegen die Ausbeutung unserer natürlicher Ressourcen, als Feministinnen und Feministen: Wir alle sind SozialistInnen und Sozialisten, sind Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratien, denn:
Freiheit ist unser Ziel
Gerechtigkeit und Gleichheit lautet unser Plan
Solidarität ist unsere Waffe!
Lasst uns eine ganz deutliche Botschaft in die Welt senden: Ja, wir sind Sozialistinnen und Sozialisten, Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratien, ja, wir sind eine weltweite antikapitalistische Bewegung und wir sind verdammt nochmal stolz darauf!