In Nordafrika und grossen Teilen Arabiens gehen die Menschen für Ideale auf die Strasse, die für uns selbstverständlich sind: Für Freiheit, Demokratie und ihr Recht auf Selbstbestimmung. Viele haben diesen heldenhaften Kampf gegen ihre Unterdrücker bereits mit dem Leben bezahlt. Hunderte oder gar Tausende mehr werden diesen Preis wohl noch bezahlen müssen. Die Bewunderung für diesen Mut verschlägt uns allen die Sprache. Fassungslos müssen wir feststellen, dass diejenigen, welche uns weismachen wollen, dass Demokratie und Islam nicht vereinbar seien, gerade eine Lektion von den arabischen Völkern erhalten, was es heisst, für seine demokratischen Rechte zu kämpfen.
Hierzulande spart keine Zeitung mit Kritik an den zögerlichen Beschlüssen der EU und der UNO. Dabei wäre es wohl angebrachter, etwas mehr Selbstkritik zu üben, bevor wir über andere herziehen: Die Schweiz ist nicht eine Insel der Unschuld, sondern war immer eine treue Partnerin diktatorischer Regimes und pflegte insbesondere eine privilegierte Beziehung zum Gaddafi-Clan – diplomatische Krise hin oder her. Bereits drei Jahre nach der Machtergreifung gehörte die Schweiz zu den ersten stolzen Lieferanten von Waffen für das Terrorregime. Und auch heute noch liest sich die Liste der Abnehmerstaaten von Schweizer Kriegsmaterialexporten wie ein Who is Who der Diktaturen, in denen die Menschen gerade kämpfen: Ägypten, Libanon, Qatar, Saudi Arabien, Bahrain, Jordanien, Kuwait.
Auch wenn Autokraten aus der ganzen Welt nach einem sicheren Hafen für ihre zusammengeraubten Vermögen suchen, finden sie diesen dank dem Bankgeheimnis in der Schweiz: Mubarak, Ben Ali, Gaddafi – um nur die aktuell Berühmtesten zu nennen. Letzterer soll gemäss Finanzexperten zeitweise bis zu acht Milliarden Franken in der Schweiz gebunkert haben. Es wirkt schon fast wie eine Randnotiz, dennoch sollten wir nicht vergessen, dass auch eine von zwei Schweizer Öl-Raffinerien dem Gaddafi-Konzern Tamoil gehört, Libyen nach wie vor der wichtigste Rohöllieferant der Schweiz ist, Tamoil hierzulande 350 Tankstellen betreibt und der eben eroberte Bunker der Diktatorenfamilie in der Stadt Al-Baida unter anderem mit Schweizer Technologie ausgestattet ist. Kurz: Die politische und wirtschaftliche Elite in diesem Land hat sich jahrzehntelang einen Dreck darum geschert, was die Massenmörder und Diktatoren in ihren Heimatländern anrichten. Hauptsache, die libyschen und tunesischen Dinare und das ägyptische Pfund rollen. So unangenehm sie auch ist, die blanke Wahrheit ist: All die Diktaturen im arabischen Raum überlebten und überleben unter anderem dank freundlicher Unterstützung aus der demokratischen Schweiz.
Klar, die Schweiz ist lange nicht alleine Schuld und sie kann die Probleme der Welt auch nicht alleine lösen. Aber angesichts der Ereignisse der letzten Tage wirkt die aktuelle Diskussion um die Aufnahme von Flüchtlingen schlicht grotesk: Auf dem grünen Platz in Tripolis werden die Demonstranten und Demonstrantinnen gleich massenweise niedergeschossen – und unsere Politiker fragen sich ernsthaft, ob wir in der reichen Schweiz wirklich ein paar hundert Flüchtlinge aufnehmen können. Der Schweizer Gründer des Roten Kreuzes, Henry Dunant, würde sich im Grab umdrehen, wenn er diese Debatte mitbekäme. Selbstverständlich kann das dieses Land – wenn es will! Für die Schweiz gibt es heute nur einen Entscheid zu fällen: Wollen wir unsere Verantwortung für die Werte, auf die wir zu Recht stolz sind, für Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung in der Welt wahrnehmen oder kümmern wir uns vor allem weiter darum, was die anderen tun oder lassen? Eine Schweiz, die tatsächlich stolz ist auf ihre demokratische Tradition – die im Übrigen auch einmal blutig erkämpft werden musste – steht unmissverständlich auf der Seite der nach Freiheit schreienden Völker. Sie gibt das Bankgeheimnis für Diktatoren endlich auf, sie setzt sich für die verfolgten Menschen ein und sie beendet das blutige Geschäft mit Waffen – dieses bisschen Solidarität mit den kämpfenden Menschen wäre nicht eine noble Geste, sondern schlicht unsere moralische Verantwortung.
Dieser Artikel erschien am 2.3.2011 in der Mitteland Zeitung. Er wurde auch auf aargauerzeitung.ch publiziert.