Vischer und Gross: Das grosse Gespräch zum Schluss. Teil 1: Parlament, Parlamentarismus und die Linke

article-04042015185458Mit Andreas Gross und Daniel Vischer verabschieden sich vielleicht die zwei letzten grossen Intellektuellen aus dem Parlament. Zum Abschluss traf ich meine beiden Freunde zu einem Gespräch. Das Gespräch fand wenige Tage vor den Eidgenössischen Wahlen vom 18. Oktober 2015 bei Pinot Grigio, rotem Merlot und italienischen Spezialitäten im „Italia“ in Zürich statt. Das nachfolgende Protokoll versucht einigermassen akurat fast drei Stunden Diskussion wieder zu geben (ja, es hat sicher noch Tippfehler, wir konnten uns keinen Korrektor leisten).

 

Teil 1: Parlament, Parlamentarismus und die Linke

Wermuth: In wenigen Wochen geht eure letzte Legislatur zu Ende. Dani, du bist seit 2003 im Parlament, Andi schon seit 1995. Hand aufs Herz: Hat sich die Mühe gelohnt?

 Vischer: Nun ich sage immer, wenn du am Schluss sagen musst, es hat sich nicht gelohnt, hättest du dich gar nicht wählen lassen sollen. Ich war immer gern im Parlament. Es ist ein grosses Privileg auf dieser Ebene Politik gestalten zu können. Das ist mir in den Kommissionen glaube ich auch ab und an gelungen. Dort hat man mehr Einfluss als man von aussen betrachtet manchmal meint. Ich halte nichts von dem Argument, wir Linken seien ohnmächtig. Natürlich führen wir zum Beispiel in der Finanzkommission unzählige Debatten, die wir am Schluss verlieren. Aber wir haben es versucht, das alleine war es schon wert. Der Punkt ist: Entweder die Linke nimmt am Parlamentarismus teil oder nicht.

Gross: Einer der grossen Vorteile im Parlament besteht darin, dass man sich ja auch in der öffentlichen Debatte Gehör verschaffen kann. Wenn du dir im Parlament den Ruf erarbeitest Spezialist in einem bestimmen Thema zu sein, dann hört man dir auch zu. Mir ist das zuerst in der Armeefrage, später bezüglich der Demokratie gelungen. Ich war auch sehr gerne im Parlament. Das Parlament hat mir auch die Chance geboten, Europa so kennenzulernen, wie das sonst niemals möglich gewesen wäre. Ich kenne mich dank dem Sitz im Europarat inzwischen in allen Hauptstädten Europas aus. Ich war der erste Schweizer, der Fraktionspräsident einer Fraktion im Europarat wurde. Die Bedeutung dieser Entwicklung wird in der Schweiz leider immer unterschätzt. In die demokratiepolitische Debatte konnte ich wirklich auch eingreifen. So konnte ich mit anderen zum Beispiel die Erhöhung der Unterschriftenzahlen für Volksinitiativen verhindern. Bundesrat Koller wollte das damals durchsetzen. Es ist mir gelungen, eine Debatte darüber anzustossen, dass die direkte Demokratie eine Verfeinerung braucht. Das ist heute breit anerkannt. Aber der Job als Parlamentarier hat auch seine Nachteile. Er ist zum Beispiel mit guten Beziehungen absolut inkompatibel. Man ist sehr oft abwesend und verdient für diesen Aufwand deutlich zu wenig.

Vischer: Ich teile diese Einschätzung, wenn ich früher als 2003 ins Parlament gekommen wäre, weiss ich nicht, ob meine Ehe das überlebt hätte. Mit kleinen Kindern wäre das nicht machbar gewesen. Ich habe eigentlich nicht damit gerechnet in den Nationlrat gewählt zu werden. Im Jahr 2000 wurde ich in den Zürcher Verfassungsrat gewählt. Da habe ich mir gesagt: Das ist jetzt ein ehrenvoller Abschied von der Politik. Dann kam das Grounding. Und plötzlich war ich als Präsident des VPOD Luftverkehr in allen Medien. Ich habe nie mehr damit gerechnet. Am Schluss hatte ich Glück. Eigentlich wollte ich gar nicht in die Finanzkommission, sondern in die Staatspolitische Kommission. Im Endeffekt war es ein Glücksfall, genau im Zeitraum 2007 bis 2011 in dieser Kommission zu sein. Wir hatten die ganze UBS-Geschichte, plötzlich war die Kommission besetzt mit den Top-Leuten aus allen Fraktionen. Leider fand dann mein Nichteintretensantrag in dieser Sache relativ wenig Resonanz. Er war vor allem gegen die Anwendung des Notrechts gerichtet.

 

Wermuth: Ich muss sagen, nach meinen ersten vier Jahren bin ich etwas desillusioniert. In vielen Fragen findet gar keine richtige Diskussion mehr statt im Parlament…

 Gross: Das stimmt sicher im Plenum des Nationalrates, mittlerweile sogar auch zu häufig in einzelnen Kommissionen. Ich war 24 Jahre in der Staatspolitischen Kommission (SPK). Früher gab es dort echte Debatten über die Grundsätze der Demokratie. Damals war die CVP noch vertreten Kollegen wie Eugen David oder Judith Stamm. Mit diesen Leuten hatten wir echt gute Diskussionen. Das war noch eine echte Mitte. Heute leidet die SPK darunter, dass die Leute vor allem wegen der Migrationspolitik da hinein wollen. Das hat in den letzten 10 Jahren mit Ausnahme von den Grünen und der SP die allerschlimmsten Leute angezogen. Gerhard Pfister hat heute in Ausländerfragen keine Differenzen mehr mit der SVP. Mit ihnen gibt es dann auch in Sachen Demokratie keine Reformperspektiven mehr. Mit Ausnahme von Kurt Flury sucht keiner mehr von rechts heute die Debatte.

 Vischer: Ja, definitiv. Im Kantonsrat gab es die freie Debatte auch im Plenum. Dadurch gab es eben wirkliche Debatten. Die Räte waren bei wichtigen Fragen anwesend. Im Nationalrat gibt es das ja nicht. Nach dem ersten halben Jahr in Bern war ich frustriert und habe mich gefragt, was wir hier eigentlich machen. Da redet man und keiner hört zu. Die Debatte vor Ort im entscheidenden Moment findet nicht mehr statt.

Gross: Das war früher anders. Urs Schwaller hat das richtig gesagt: Es gibt keinen besseren Beweis dafür, dass einen die Argumente des anderen nicht interessieren als die Art und Weise, wie der Nationalrat debattiert, oder besser: eben nicht debattiert. Vor kurzem habe ich vor der Vereinigung für Parlamentsfrage einen Vortrag zum Thema „Freies Reden im Parlament“ gehalten. Da habe ich mich gefragt: Warum redet eigentlich fast niemand mehr frei? Ich glaube das kommt daher, weil sich der Aufwand nicht mehr lohnt. Die Aufmerksamkeit, die man durch die freie Rede sucht, in der Hoffnung man könne das Stimmverhalten beeinflussen, ist völlig illusionär. Alle wissen schon vor der Debatte, was sie stimmen, egal, was du sagst.

 

Wermuth: Was hat sich denn verändert?

Vischer: Es war die Reformitis im Parlamentsrecht, übrigens auch in vielen Kantonsparlamenten. Plötzlich mussten die Parlamente effizient sein, die Debatten waren nur noch organisiert. Interessant ist: Im Kantonsrat konnten wie gesagt alle das Wort ergreifen. Aber es haben am Ende gar nicht mehr Leute das Wort ergriffen, weil nur diejenigen sprachen, die wirklich etwas zu sagen hatten. Das wäre übrigens auch im Nationalrat so. Das Resultat ist, dass wir heute im Nationalrat jedes Mal dutzende Rednerinnen zu Volksinitiativen haben, weil man sonst nie sprechen kann.

Gross: Hinzu kommt, dass es heute viel mehr Leute gibt, die nicht mehr ganz verstehen, was sie eigentlich vortragen. Das hat mir letzthin auch alt Nationalratspräsident Ruedi Lustenberger bestätigt. Er hat von oben jeweils die Briefköpfe der Manuskripte gesehen. Er sagt: Bei 50% der Leute war ein Logo irgendeiner Organisation im Briefkopf. Das heisst, die lesen ab, was andere für sie geschrieben haben.

Vischer: Gleichzeitig stelle ich im Vergleich mit anderen Parlamenten auch Vorteile des Systems fest. Tatsächlich ist das Parlament nämlich viel stärker, als man allgemein meint. Im deutschen Bundestag kannst du nicht im Plenum noch über Minderheitsanträge abstimmen oder sogar Einzelanträge einbringen. Zudem haben wir kein leaderistisches System. Ich meine damit: Die einzelnen Parlamentarier sind viel gleichberechtigter und damit einflussreicher als in anderen Ländern. Das System verlangt heute wechselnde Mehrheiten, das erhöht den Einfluss des Parlaments in den einzelnen Dossiers.

Gross: Das Konkordanzsystem ist eine Folge der direkten Demokratie, da sind wir uns ja alle drei einig. Das finde ich höchst positiv. Das System erhöht quasi das Diskussionsvolumen massiv. Der Bundesrat muss sich von Fall zu Fall um neue Mehrheiten im Parlament bemühen. Deshalb ist es auch falsch zu meinen, es gäbe den oder die einflussreichste Parlamentarierin oder den einflussreichsten Parlamentarier. Das ändert von Dossier zu Dossier.

 

Wermuth: Es ist allerdings gerade Mode geworden, uns Parlamentarier nach unserem Einfluss zu „raten“. Das ist also zu einfach?

Gross: Jedes Thema hat in der Schweiz ein eigenes Rating. Aber das scheint für die Journalisten zu aufwändig.

Vischer: Fakt ist, die Journalisten kennen die Dossiers oft gar nicht mehr, über die sie schreiben. Und sie verstehen das Parlament nicht. Nach zwei Jahren in dieser Legislatur hat mich ein Journalist angerufen und mich über zwei SP-Politiker befragt, darunter über dich. Er hat mir dann gesagt, diesen Wermuth höre man ja nie am Rednerpult, der spiele ja keine Rolle im Parlament. Ich war überrascht: Das zeigt, dass er nicht verstanden hat, wie der Parlamentsmechanismus funktioniert. Der Mann hat offenbar schon nur den Unterschied zwischen einer Aufsichtskommission, wie die Finanzkommission wo du drin sitzt, und einer Legislativkommission nicht verstanden. Mir fällt auf: Im Kantonrat in Zürich waren die Journalisten eigentlich immer im Saal. In Bern sind sie vor allem in der Wandelhalle oder im benachbarten Medienzentrum und verfolgen die Debatte gar nicht. Es kommt vor, dass du über etwas debattierst und bevor die Debatte fertig ist, wird jemand online zitiert, der sich über Twitter gemeldet hat, aber eigentlich an der Debatte gar nicht teilnimmt.

Gross: Diese Woche hat mich eine Journalistin angerufen und mich gefragt, wieso ich bei Smartvote keine Fragen ausgefüllt und mein Wahlkampfbudget nicht bekannt gegeben hätte… Wir müssen zunehmend den Journalisten zuerst erklären, um was es überhaupt geht. Als ich angefangen habe, gab es noch Journalisten wie einen Roger Blum beim Tages Anzeiger, der doppelseitige Berichterstattung über die Parlamentsdebatten schrieb. Die waren gleich spannend wie heute Matchberichte. Heute sind die Journalisten, wie Dani gesagt hat, gar nicht mehr im Saal. Nur, wir alle wissen, einen Fussballmatch im Stadion zu schauen ist etwas ganz anderes als ihn am Fernsehen zu schauen. Man bekommt das Darum herum nicht mit. Das gilt auch für die Parlamentsberichterstattung.

 

Wermuth: In meiner Zeit bei der JUSO haben wir uns immer wieder die Frage gestellt, ob sich denn die Teilnahme an der bürgerlichen Demokratie und dem Parlamentarismus für die Linke wirklich auszahle. Lohnt sich all die Energie und die Tausenden Stunden Knochenarbeit für die Linke?

Vischer: Der Parlamentarismus lohnt sich auch für die Linke. Wenn Rot und Grün nicht im Parlament wären, gäbe es keine Energiewende, wenn wir nicht wären, gäbe es keinen kritischen Diskurs in der Verschärfung zum Strafrecht, es gäbe keine Debatte für eine Stärkung der AHV. Es gibt ein Zusammenspiel zwischen dem Parlamentarismus und der Agitation auf der Strasse. In diesem Zusammenhang bin ich auch für die Stärkung der Parteien. Ihre Rolle ist eine ganz zentrale. Ich bin kein grosser Fan von diesen Quereinsteigern. Ich finde es ist zentral, dass die Parlamentarier in ihren Parteien verankert sind.

Gross: Die Linke ist gezwungen, sich auch mit Realitäten auseinanderzusetzen, da stimme ich Dani absolut zu. Die Parteien sind heute zu schwach. Sie können sich gar nicht gegen die Verwaltung oder die Verbände behaupten.

 

Weiter zu Teil 2: Rechtsstaat, der Aufstieg der SVP und die Europäische Union

Einer
für alle

Weil es hier um uns alle geht. Mach mit!

Durch das Eingeben erklärst du dich damit einverstanden, dass Cédric Wermuth und die SP dich auf dem Laufenden halten dürfen. Mehr erfährst du hier.