Warum das „Migrationspapier“ vor allem eine verpasste Chance ist


1348413603530823035_portraitDie SP Schweiz diskutiert an ihrem Parteitag 2012 in Lugano ihr neues „Migrationspapier“. Eigentlich, so würde man meinen, könnte da ja auch niemand was dagegen haben. Wer will eine oder die eigene Partei schon daran hindern, sich und ihre Positionen zu hinterfragen? Niemand natürlich, auch ich nicht. Aber dass dieses Papier im Vordergrund steht und nicht die ebenfalls traktandierte Kurzfassung zum Parteiprogramm ist leider Ausdruck einer verpassten Chance für die Linke.

Blenden wir zurück: Die Krise beginnt 2007/2008 mit einer Reihe von Bankenpleiten in den USA und Europa. Eine kleine Minderheit von steinreichen Spekulanten hatte sich mit Hilfe ihrer Finanzberater am globalen Kasino grässlich verzockt. Und weil wir es zugelassen haben, dass die Finanzbranche inzwischen unsere Wirtschaft weitgehend beherrscht, mussten die Gesellschaften überall auf der Welt diese marode Branche mit schätzungsweise bis zu 20000 Milliarden US-Dollar retten. Bezahlen durften die Zeche die Menschen: Mit Sozialabbau, Arbeitslosigkeit, tieferen Löhnen, weniger Rente. Die Krise war keine Naturkatastrophe, kein Zufall. Sondern das Produkt einer Politik, die ein paar wenige auf Kosten der Mehrheit immer reicher macht. Die Ideologie des Marktes hat die Demokratie über Jahre verdrängt: Gut war nur noch, was möglichst schnell möglichst viel privaten Profit abwarf. Die Fehlentwicklung war für jeden offensichtlich – die Linke spürte Aufwind.

Der Parteitag 2010 für mehr Wirtschaftsdemokratie

Der Parteitag 2010 der SP Schweiz wagte dann den demokratischen Aufbruch. Zum Erschrecken der classe économique und der bürgerlichen Medien schrieben sich die Delegierten die Demokratisierung der Wirtschaft wieder zuoberst auf die Fahne. Niemals mehr sollte es soweit kommen, dass so wenige so viel Geld in unsinnige und gemeingefährliche Börsen-Spielereien stecken dürfen. Als erste sozialdemokratische Partei in Europa wagte die SPS die Konsequenzen aus der Krise zu ziehen: Mit einem System, das darauf ausgelegt ist, dass nur wenige die Macht und den Profit haben, muss Schluss sein. Wir wollten wieder aufzeigen, dass eine kleine Minderheit sich in diesem System auf Kosten der grossen Mehrheit bereichert. Dieser mutige Schritt hat viele befeuert: Gerade die Jugendorganisation spürte den Zuwachs deutlich – hier formierte sich eine neue Bewegung.

Die gleiche globale Wirtschaftselite, die für die Krise verantwortlich ist, schaffte es aber in den vergangenen Monaten zusammen mit einem Heer ideologisch verbohrter Nacheiferer die Ursachen der Krise komplett umzudeuten: Schuld war plötzlich nicht mehr die Überkonzentration von Kapital in wenigen Händen, die entfesselten Finanzmärkte und die entkoppelte Finanzbranche, sondern die Sozialstaaten, die faulen Südeuropäer und die Schmarotzer schlechthin. Die gleichen Rezepte, die in die Krise geführt hatten – Staatsabbau, Lockerung der Arbeitsrechte, Lohnsenkungen, Deregulierung der Finanzmärkte, Steuergeschenke an Superreiche und grosse Unternehmen – sollten plötzlich die Welt retten. Das Resultat ist so bekannt wie wenig überraschend: Die Arbeitslosigkeit ist weiter explodiert, die Zeche zahlen weiterhin die Menschen. Auch hier finanzieren wir das Luxusleben der Wirtschaftselite wieder tüchtig mit. Alleine die 300 Reichsten haben ihr gemeinsames Vermögen während der Krise von 460 Milliarden (2007) auf wohl gegen die 500 Miliarden heute vergrössert.

Parteitag 2012 in Zeichen der Migrationspolitik

Die Rechte macht jetzt für alle Fehlentwicklungen die „Masseneinwanderung“ und „Asylschmarotzer“ verantwortlich. Und plötzlich heisst auch das neue Schwerpunktpapier der Linken nicht „Wirtschaftsdemokratie konkret“, sondern eben Migrationspapier. Die Kurzfassung zum Parteiprogramm – also die zweite Etappe im Ringen um einen Gegenentwurf zum real existierenden Krisenkapitalismus – ist nur noch Nebenschauplatz. Anstatt die Chance zu packen und einen radikal neuen, demokratischen Gesellschaftsentwurf zu entwickeln, haben wir uns die Deutungshoheit der Rechten aufdrücken lassen. Im Vordergrund steht plötzlich, dass man anscheinend beweisen muss, ebenfalls hart gegen „Asylmissbrauch“ durchgreifen zu können. Damit wird der falsche Konflikt konstruiert: Schweizer_innen stehen Ausländer_innen gegenüber. Nur: Wann hat zuletzt ein Asylsuchender Ihr Pensionskassenkapital an der Börse verzockt? Eben. Die Konfliktlinie in der Krise läuft nicht zwischen „uns“ Schweizer_innen und „den“ Ausländer_innen, sondern zwischen jenen oben, die sich auf Kosten der Mehrheit bereichern wollen, und der grossen Mehrheit. Es ist kein Zufall, dass die gleichen Parteien dauernd die Asylgesetze verschärfen und den Rentner_innen die AHV, den Arbeitslosen die Rente und den Familien die Zulagen kürzen wollen. Die bürgerliche Logik ist in allen Politikbereichen die gleiche: Vom Klassenkampf von oben lenkt man mit einer einfachen Botschaft ab: Gegen oben, gegen Superreiche und Multis sollen wir kuschen, dafür gegen unten, gegen jene, die sich nicht wehren können, umso stärker treten. Verantwortlich gemacht werden immer die anderen: Ausländer, Behinderte, Musliminnen, Asylsuchende. Wer die Migrationsdebatte in dieser Logik aufnimmt, spült Wasser auf die Mühlen der Rechten.

Gewiss, ein demokratisches Gegenmodell zum globalisierten Finanzkapitalismus entwickeln zu wollen, wäre eine anstrengende Aufgabe. Aber das waren die Kämpfe um die AHV, das Frauenstimmrecht oder das Partnerschaftsgesetz auch. Will die Linke glaubwürdig bleiben – in der Schweiz und in ganz Europa – bleibt ihr gar nichts anderes übrig.

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