Die Erfahrung lehrt: Wenn weisse Männer über Sechzig stöhnen, früher sei alles besser gewesen, ist generell Vorsicht angebracht. So auch bei Mark Lillas Essay „Die Linke hat sich selbst zerstört“ (NZZ vom 17. August 2017). Lilla kritisiert, dass die neuen, linken Bewegungen den Blick für das grosse Ganze, für die gemeinsame, linke Erzählung verloren hätten. Er kritisiert namentlich die Black Lives Matter-Bewegung dafür, dass sie „grundsätzliche Anklage“ gegen den Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft erhebe und sie damit spalte. Das gleiche Argument wurde und wird auch immer wieder gegen feministische oder LGBTQ-Bewegungen vorgebracht. Schwarze, Frauen, Transsexuelle sollen dann bitte im Namen des grossen Ganzen, oder mit Lilla des „Gemeinwohls“, auf die allzu laute Betonung ihrer „individuellen“ Diskriminierungserfahrung verzichten. Das läuft oft auf eine harte Gegenüberstellung hinaus: Entweder würde die Linke weiterhin „Identitätspolitik“ machen und damit verlieren – oder sie kehre zu ihren „Kernprinzipien“ zurück, bei Lilla eher vage eine Art New Deal reloaded.
Mal abgesehen von einer romantischen Verklärung des New Deal, bleibt Lilla auch in einer problematischen linksliberalen Logik verhaftet. Er übersieht, dass sowohl die Ausblendung der Klassenfrage, als auch die Vernachlässigung von Rassismus und Geschlecht Machtverhältnisse in einer Gesellschaft verschleiern: Der Liberalismus war immer und ist die Herrschaftsideologie des weissen Mannes im Kapitalismus. Mit Freiheit, Selbstverantwortung und Gemeinwohl meinen die gut situierten meist eigentlich nur ihre eigene Komfortzone. Genau das passiert, wenn der weisse Universitätsprofessor Lilla von einer Bewegung der prekarisierten schwarzen Bevölkerung Rücksicht auf seine persönliche Befindlichkeit einfordert. Eine linke, die Diskriminierung und Machtverhältnisse ernsthaft in Frage stellt, muss heute eine Kapitalismuskritik formulieren, die gerade die ungleiche Verteilung von Erwerbs- und Carearbeit, rassistische Strukturen in der Staatsgewalt oder der Wirtschaft und das globale Migrationsregime ins Zentrum rückt.
Richtig liegt Lilla sicher darin, dass sich die Linke nicht mit einem Mosaik von Einzelkämpfen begnügen kann. Tatsächlich sollte eine neue Linke aber weder ein „Zurück“ zur alten Klassenpolitik noch einen harmonischen Abschied von der Kapitalismuskritik anstreben, sondern ein Vorwärts zu einer neuen Klassenpolitik. Eine Linke, wie bei Bill Clinton (auf Vorbild auf das Lilla immer wieder zurück greift), die die Klassenperspektive und damit die Kritik des Kapitalismus aufgibt, missversteht die historische Epoche in der wir leben. Macht und Herrschaft werden gerade heute ganz zentral über die Frage verteilt, ob und wie ich Zugriff habe auf ökonomische Ressourcen. Das Kapital unterwirft nach und nach unsere ganze Lebenswelt: Von den Geschlechterbeziehungen über die Pflege unserer Mitmenschen, bis zur natürlichen Umwelt und zum menschlichen Körper, alles wird ins Korsett der „Verwertbarkeit“ gezwungen. Und tatsächlich bedroht die stetig wachsende Konzentration ökonomischer Macht in privaten Händen nicht weniger als die Demokratie, wie wir hierzulande in der Finanzkrise erlebt haben. Gefährlich ist heute nicht die radikale Kritik an diesem Gesellschaftsmodell, sondern ein falsch verstandener Pragmatismus einer „extremen Mitte“ (Tariq Ali), die daran festhält.
Die Herausforderung für die Linke besteht heute also darin, den Kampf gegen alles, was die Freiheit beschränkt, zusammenzuführen, eben intersektional zu denken: Gegen den Kapitalismus, gegen Sexismus, gegen Rassismus, gegen die Umweltzerstörung. Demokratie und Freiheit sind unteilbare Konzepte. Es gibt keine linke Position, die sich für eine strenge Bankenregulierung, für den Ausbau des Service public, für Mindestlöhne, für eine wirtschaftsdemokratische Perspektive ist, aber gegen das Adoptionsrecht für lesbische Paare oder das Recht auf Schutz für Flüchtlinge – und auch nicht umgekehrt.
Dieser Meinungsbeitrag ist am 24. August 2017 in der NZZ erschienen.