Zum Jahreswechsel sind die Zeitungen jeweils voll mit Prognosen, was in den nächsten zwölf Monaten so alles passieren wird und was nicht. Darüber kann man sich dann ja jeweils trefflich streiten. So sicher wie das Amen in der Kirche wird die bürgerliche Mehrheit auch dieses Jahr einen Angriff auf die Sozialwerke reiten, insbesondere die Altersvorsorge und damit die AHV.
Die AHV-Gegner_innen haben allerdings ein zentrales Problem: Die AHV hat keine Schulden, im Gegenteil. Sie macht sogar „Gewinn“ (die Einnahmen liegen nach wie vor über den Ausgaben). Der argumentative Trick ist darum immer derselbe und scheint auf den ersten Blick sogar einleuchtend: Weil es immer mehr Alte gibt, müssen die erwerbstätigen Jungen pro Person immer mehr Rentner_innen finanzieren. Das kann auf die Dauer ja nicht aufgehen, heisst es dann jeweils. Das nennt man dann „Prognose“. Das Argument ist allerdings schlicht falsch.
Der „Altersquotient“ sagt noch wenig aus
Relevant ist nicht allein das Verhältnis von erwerbstätigen Jungen zu Rentner_innen, sondern die Frage, wie viele Personen die Erwerbstätigen insgesamt unterstützen müssen, also z.B. auch Kinder und Erwerbslose. So ist es zwar richtig, dass das Verhältnis von über 65jährigen zu den 20-64jährigen stetig etwas zugenommen hat, seit es die AHV gibt (der so genannte Altersquotient). Dafür ist der Jugendquotient (das Verhältnis von unter 20jährigen zu den 20-64jährigen) massiv eingebrochen. Selbst wenn man die Erwerbslosen einrechnet, ist die finanzielle Last der heutigen Erwerbstätigen nicht ausserordentlich hoch, sondern historisch tief! Im Übrigen ist die statische Betrachtung sehr problematisch: So wurden die Verhältnisse in den letzten Jahrzehnten beispielsweise durch die zunehmende Arbeitstätigkeit der Frauen und durch die Migration positiv beeinflusst (Ausländer_innen zahlen übrigens immer noch weit mehr in die AHV ein als sie Leistungen beziehen).
Fast wichtiger als dieses Verhältnisse ist aber eine andere Grösse, nämlich die Produktivität und ihre Verteilung. Die Produktivität gibt an, mit wie viel Arbeit wir wie viele Güter, Dienstleistungen und eben auch Einkommen erarbeiten. Sie steigt in einer wachsenden Volkswirtschaft kontinuierlich an. Die Rechnung ist einfach: Wenn wir mehr produzieren und entsprechend mehr verdienen, können wir uns auch bessere Renten leisten. Das Problem hier liegt bei der Verteilung: Die gesamte Arbeitsproduktivität ist in der Schweiz seit 1994 um 17% gewachsen. Die unteren und mittleren Löhne sind nur um 6-9% angestiegen. Den ganzen Rest hat sich eine kleine Minderheit unter den Nagel gerissen: Aktionäre, Manager, Topverdienerinnen.
Um was geht es dann? It’s the profits, stupid!
Die Angstmacherei um die AHV hat also wenig faktische Grundlagen. Es geht – einmal mehr – um etwas ganz anderes. Die private Altersvorsorge wäre für Banken und Versicherungen ein lukratives Geschäft. Das geht aber nur, wenn die AHV weg ist – daran arbeiten sie letztendlich, nicht an ihrer Rettung. Dass die Menschen immer älter werden, ist ein gesellschaftlicher Fortschritt. Und dass wir in einer Gesellschaft, deren Reichtum geradezu explosionsartig gewachsen ist, jetzt plötzlich weniger Anspruch auf Renten haben oder länger arbeiten sollten, ist absurd. Selbst wenn die AHV tatsächlich aus irgendwelchen Gründen auf zusätzliche Finanzen angewiesen sein sollte, ist das kein Grund zur Panik. Alleine die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer haben ihr Vermögen von 2011 bis 2012 um sagenhafte 31 Milliarden vergrössert, von 481 auf 512 Milliarden – weit mehr als die AHV jemals brauchen würde. Geld ist genug vorhanden in diesem Land, es liegt nur am falschen Ort.
Dieser Artikel ist am 4. Januar 2013 in der Aargauer Zeitung/Die Nordwestschweiz erschienen.