Die politische Elite Europas führt seit einigen Jahren ein neues Schlachtross gegen Staat und Demokratie zu Felde: Die Angst vor Staatsschulden. Schulden seien das Schlimmste, was einem Staat passieren könne, man müsse nur nach Griechenland schauen, um das zu sehen. Und tatsächlich: Die griechische Schuldenlast wird dieses Jahr die beeindruckende Höhe von über 160% des Bruttoinlandproduktes BIP erreichen – verschwiegen wird natürlich, dass diese Schulden erst mit der Bankenrettung explodiert sind, denn in den Jahren 2000 – 2008 blieb das griechische Defizit stabil.
Griechenland ist nicht der einzige Staat in Finanznöten. 13 weitere Staaten Europas wiesen 2011 Schuldenquoten von mehr als 60% des BIP auf. Einig scheinen sich daher alle: Die Schulden müssen endlich runter! Warum aber steigen die Schulden in praktisch allen Ländern Europas und Nordamerikas trotzdem andauernd weiter, wenn sich doch alle einig sind? Tatsächlich: Der Internationale Währungsfond, die Weltbank, die EU und alle bürgerlichen Parteien – auch bei uns – werden nicht müde, das Mantra der Schuldenreduktion herunterzubeten. Die am stärksten überschuldeten Staaten Südeuropas müssen ein drastisches Kürzungsprogramm nach dem anderen über sich ergehen lassen – mit dramatischen Folgen für die Menschen. Die Wirtschaft bricht ein, die Arbeitslosigkeit explodiert, die Leistungen der Sozialstaaten werden zusammengestrichen – und trotzdem steigen die Schulden weiter an. Was also läuft schief?
Schulden für die einen, Vermögen für die anderen
Was in der Debatte um Staatsschulden generell vergessen geht: Öffentliche Schulden sind nicht nur Schulden, sondern eben auch private Vermögen. Das ist relativ einfach nachvollziehbar: Wenn ein Staat Geld ausgibt, das er nicht hat, muss er es sich von jemandem leihen. Für den Staat sind das Schulden, für den Gläubiger ist es Vermögen – welches er irgendwann plus einem schönen Zins wieder zurück erhält. Nun, die entscheidende Frage lautet: Wann haben Sie zum letzten Mal Staatsanleihen von Griechenland, Deutschland, Frankreich oder irgendeinem anderen Staat gekauft? Wahrscheinlich nie – zumindest nicht privat. So geht es 99% der Weltbevölkerung, aber nicht allen.
Die Schuldenuhr des britischen Wirtschaftsmagazins „The Economist“ schätzt den Schuldenstand aller Staaten weltweit. Für 2010 kommt das Online-Tool auf weltweite Staatsschulden in der Höhe von 42.4 Billionen US-Dollars. Für das gleiche Jahr schätzt die Beratungsfirma Capgemini die weltweiten Vermögen so genannter High Net Worth Individuals (Einzelpersonen mit Privatvermögen von mindestens 1 Million USD) auf – Achtung – 42.7 Billionen Dollar. Eine lupenreine Punktlandung. Das ist kein Zufall.
Ein gigantisches Programm zur Umverteilung
Staatsschulden gehören seit Anbeginn des modernen Kapitalismus zu den idiotensicheren „Business-Modellen“ für Banken und steinreiche Leute. Es sind meist sehr sichere Anlagen und wenn dann doch etwas schief geht, kann man die Staaten immer noch zwingen, Leistungen auf Kosten der Bevölkerung abzubauen und rentable Betriebe zu privatisieren. Ehemalige Staatsbetriebe kann man sich dann für einen Bruchteil ihres Wertes unter den Nagel reissen. Die Spekulanten und ihre bürgerlichen Wasserträger profitieren also gleich doppelt. Genau das geschieht jetzt mit der so genannten „Unterstützung“ und den Kürzungsprogrammen für die klammen Staaten Südeuropas. Wir erleben gerade ein gigantisches Programm zur Umverteilung von Reichtum von unten nach oben. Übrigens geschieht das auch hier: Laut einer Studie der Credit Suisse besitzt in der Schweiz heute das reichste 1% der Bevölkerung mehr Vermögen als alle restlichen 99% zusammen.
Richtig ist also, dass solche Staatsschulden tatsächlich unsozial sind. Sie müssen abgebaut werden. Falsch ist, dass man Staatsschulden abbauen kann, wenn man einseitig Leistungen kürzt. Um die Schulden wirklich los zu werden, muss man eben beide Seiten der Bilanz betrachten. Nicht nur die Schuldenberge müssen runter, sondern eben auch die grossen Vermögen – sonst bringt alles Zusammensparen überhaupt nichts. Dafür braucht es drastische Steuern dort, wo das Geld sprichwörtlich rumliegt: Bei Unternehmens- und Kapitalgewinnen, bei Finanzgeschäften, bei den höchsten Einkommen, Vermögen und Erbschaften.
Dieser Artikel ist am 17. Oktober 2012 in der Aargauer Zeitung (Nordwestschweiz) erschienen.