Welche humanitäre Tradition?

Der australische Philosoph Peter Singer beschrieb bereits vor mehreren Jahren folgende fiktive Geschichte: Stellen Sie sich vor, Sie gehen gerade an einem Teich vorbei. In diesem Teich sehen Sie ein Kind, das am ertrinken ist. Weit und breit ist ausser Ihnen niemand. Natürlich wollen Sie handeln. Das Problem ist aber: Sie tragen 600 fränkige Schuhe von Bally. Die Frage, die Singer stellt, erscheint geradezu abstrus: Dürften wir aus moralischer Perspektive darauf verzichten, das Kind zu retten, weil dabei unsere 600 fränkigen Schuhe ruiniert würden? Jede und jeder bei klarem Menschenverstand würde antworten: Nein, natürlich nicht. Das Leben des Kindes geht in jedem Fall vor. Mehr noch: Selbstverständlich würden wir das Kind nach Hause nehmen, es füttern, ihm trockene Kleider geben und es – solange bis seine Eltern eintreffen – beherbergen. Niemand würde fragen, woher das Kind kommt oder was es vorher so alles gemacht hat. 

Was uns in einer solch konkreten Situation absolut klar ist, erscheint plötzlich als Massstab nicht mehr gültig, wenn das Sterben nicht in unserem direkten Umfeld stattfindet. Genau dieses Phänomen erleben wir auch jetzt wieder, wenn sich Scharfmacher auf dem Buckel von Flüchtlingen aus Nordafrika profilieren. Jede und jeder, der oder die schon einmal in Ägypten, Tunesien oder Libyen war, wird bestätigen können, dass die dortige Armut und das Elend erdrückend sind. Zurück in der Schweiz sind wir aber scheinbar fast einhellig der gleichen Meinung, dass alle, die jetzt kommen, gar keine echten Flüchtlinge sind. Sondern Wirtschaftsflüchtlinge, Scheinflüchtlinge! Als ob wir je auch nur einen einzigen von ihnen selber befragt hätten.

Die „humanitäre Tradition“

Natürlich sei einem die humanitäre Tradition der Schweiz wichtig, hört man dann allenthalben. Aber man könne eben auch nicht alle aufnehmen  – „das Boot ist voll“ spricht dann zwar niemand aus, gemeint ist aber genau das. Die humanitäre Tradition ist zwar bereits im historischen Rückblick eher Einbildung als Realität. Aber heute sollte der Ausdruck „humanitäre Tradition“ eigentlich schon fast unter Strafe stehen.

Flüchtlinge1’000’000’000 (1000 Millionen oder 1 Milliarde) Menschen weltweit leiden chronisch unter Hunger. 36’000 Menschen sterben jeden Tag am Hunger und seinen Folgen – alle fünf Sekunden trifft es ein Kind unter 10 Jahren. 43’000’000 (43 Millionen) Menschen gelten gemäss UN-Flüchtlingshilfswerk als Flüchtlinge. 75-80% dieser Flüchtlinge befinden sich heute in den Entwicklungsländern. Uns in der Festung Europa trifft nur die Spitze des Eisberges. So lebten beispielsweise Ende 2011 etwas mehr als 40’000 Flüchtlinge in der Schweiz (0.09% aller Flüchtlinge). Tunesien – das noch mitten in einer Revolution steckt – hat bis dato weit über 500’000 LibyerInnen aufgenommen. Oder nehmen wir das Beispiel Pakistan. Pakistan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Nimmt man allerdings das gesamte Bruttoinlandprodukt des Landes pro Kopf und teilt es durch die Anzahl Flüchtlinge (etwas über 1.9 Mio.), die es aufgenommen hat, kommt man auf 710 Flüchtlinge pro Franken und Kopf. Der Tschad kommt auf 225, Tansania noch auf 84. In der Schweiz sind es 0.8.

Aber wir leisten doch Entwicklungszusammenarbeit!

„Aber wir leisten doch Entwicklungszusammenarbeit“, werfen die VaterlandsverteidigerInnen an dieser Stelle gerne ein. Gewiss tun wir das. Ganze 2,4 Milliarden pro Jahr – oder 0.4% des Bruttonationaleinkommens. Abgesehen davon, dass die UNO 0.7% fordert, tricksen wir uns sowieso raus. 16% dieses Aufwands (oder 400 Millionen) sind gar keine Gelder für Entwicklungszusammenarbeit. Sie bleiben sogar im Land und gehen zu einem grossen Teil in die Taschen privater Firmen. Die Schweiz rechnet nämlich die Beherbergungskosten von Asylsuchenden während dem ersten Jahr an die Entwicklungshilfe an.

Eine „humanitäre“ Politik müsste sich an der Weltlage orientieren. Das Gegenteil ist allerdings der Fall. Während 2010 die weltweiten Flüchtlingsströme einen Rekordstand im neuen Jahrtausend erreichen, nimmt die Schweiz zwischen 1999 und 2010 immer weniger Flüchtlinge auf. Jetzt sind die Zahlen erstmals wieder leicht angestiegen. Nur: 1999 waren es mehr als doppelt so viele wie heute, nämlich 105’000. Und trotzdem schreien HetzerInnen und Medien im Einklang, als würde „das Boot“ gleich untergehen. Die Debatte hat die Grenze des Lächerlichen längst überschritten – sie ist nur noch beschämend.

Dieser Beitrag ist am 1.2.2012 als Kolumne in der Mittelland Zeitung erschienen.

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