Vischer und Gross: Das grosse Gespräch ganz zum Schluss. Teil 2: Rechtsstaat, der Aufstieg der SVP und die Europäische Union

Wermuth: Es gibt auch die These, dass wir uns zu stark in diesem Kampf um den bürgerlichen Staatsapparat festbeissen…

 Vischer: Badiou und Teile der radikalen Linken sagen das. Wir sollten nicht mehr am Parlamentarismus und den Wahlen teilnehmen und damit auf eine Veränderung der Dingeausserhalb des Staates setzen. Das lehne ich ab. Es ist ein Mythos, dass der Parlamentarismus die ausserparlamentarische Opposition schwächt. Das Gegenteil ist der Fall. Ohne den kritischen Diskurs zur Asyldebatte im Parlament wäre die ausserparlamentarische Kritik nicht stärker. Vielleicht gäbe es dann gar keine Reaktion ausserhalb. Die umgekehrte Bewegung gibt es übrigens auch.

Gross: Es ist eben genau umgekehrt. Die Medien ignorieren die ausserparlamentarischen Bewegungen heute noch mehr als das Parlament. Auch wenn wir jetzt aus dem Bundesrat austreten würden, würden wir nur erreichen, dass wir noch mehr ignoriert würden. Dieser Rückzug bringt gar nichts. Nur: Die linken Parteien vernachlässigen heute die ausserparlamentarische Arbeit vollständig. Bei der SP besteht in der politischen Bildungsarbeit ein Riesendefizit. Aber wir haben politische Bildung durch die Kampagnenabteilungen ersetzt. Es gibt ein sehr schönes Beispiel dafür: Die Bankeninitiative war etwas vom Besten, was die SP je lanciert hat. Auch wegen Ruedi Strahm. Strahm war damals auch Bildungssekretär. Die grosse Mobilisierung der Basis um diese Initiative war eindeutig eine Frucht seiner Bildungsarbeit. Man konnte nur so einen eigenen Diskurs prägen. Bis heute, 35 Jahre später, wird das noch immer als grosse Leistung anerkannt.

Vischer: Die Frage ist freilich: Was heisst schon ausserparlamentarische Aktivitäten? Die NGOs? Das sind ja nicht die wirklichen Bewegungen. Faktisch sind die NGOs und Verbände heute von ihrer Basis her oft sogar enger als die Parteien. Das sind ein paar Profis, die einen grossen Spendenkuchen managen aber faktisch alleine entscheiden.

Gross: Tatsächlich verteidigen wir heute in vielen Fällen die Arbeit des Staates gegen den Versuch, ihn für Partikularinteressen zu instrumentalisieren. Nehmen wir die Asylpolitik. Das SEM und Gattiker machen sehr gute Arbeit, sind aber dauernd unter Beschluss. Hier zeigt sich: Auch der Staat in der Schweiz ist oft zu schwach.

Vischer: Das blendet die radikale Linke oft aus: Es wäre nicht besser ohne Staat, im Gegenteil. Der Staat ist eben nicht nur einfach ein Klassenstaat, auch er ist widersprüchlich. Unser Kampf geht darum, unseren Pol zu stärken und damit die Funktion des Staates als Schutzmacht für die Schwachen und Minderheiten zu stärken. Das ist ein dauernder Kampf. In den 70er Jahren haben wir in der Poch den Rechtsstaat als Bourgoisiestaat verlacht…

Gross: Das habe ich nie!

Vischer: Eben. Und dann habe ich als Anwalt und später im Parlament gemerkt, dass die Verteidigung des Rechtsstaates eigentlich um den Minderheitenschutz geht, um die Verteidigung von Grundrechten.

Gross: Ein Staat mit starken Gesetzen ist im Interesse der Schwachen, das sagte schon Rousseau. Der Starke braucht keine Gesetze. In diesem Sinne ist der Staatsaufbau in der Schweiz ein durch und durch liberaler. Links sein heisst eben nicht antiliberal zu sein, sondern mehr als liberal. Es ist absurd, wenn Leute wie Franz Steinegger heute sagen, die beiden „Pole“ SP und SVP würden die vernünftige Politik der Mitte verhindern. Wir verteidigen ja gerade diese liberale Vernunft! Die SP hat die Liberalität weitgehend akzeptiert.

Vischer: Ich würde das etwas anders formulieren. Ich glaube, die Schweiz hat eher eine angelsächsische Tradition. Für den Aufbau des Sozialstaates war das negativ. Wir haben nach wie vor einen Sozialstaat der eher stratifiziert. Aber,es gab immer eine sehr pluralistische Gesellschaftskonzeption. Der Beweis ist auch die im Allgemeinen sehr erfolgreiche Integrationspolitik. Dafür gab es immer einen Konsens, der jetzt leider immer stärker unter Druck gerät. Im Unterschied zu einem einheitlichen Republikanismus in Frankreich. Das ist ein grosser Vorteil der Schweiz, der ausgerechnet durch die SVP gefährdet wird. Ausgerechnet die SVP verlangt jetzt mit der Burka-Verbotsinitiative einen staatlich verordneten Republikanismus von oben! Weiter entfernt vom schweizerischen Modell kann man gar nicht sein.

Gross: Diese pluralistische Machtteilung im Staat ist eben ein grosser Vorteil, kein Nachteil. Ich habe immer darunter gelitten, dass gewisse Strömungen in der 68er-Bewegung die direkte Demokratie als „kleinbürgerliche Demokratie“ diskreditiert haben. Sie haben die Macht der Volksrechte immer unterschätzt.

 

Wermuth: Hat nicht die SVP diese These bestätigt? Heute führen doch gerade die Volksrechte zu einer Aushöhlung der demokratischen Prinzipien, denken wir an die Ausschaffungs- oder Minarettinitiative.

Gross: Das stimmt. Um nochmals das Fussballbeispiel zu bringen: Früher hat man nie auf den Mann gespielt, da gab es einen Konsens. De facto hat man Minderheiten nie politisch vergewaltigt.

 

Wermuth: Naja, es gab schon früher die Saisonniers und die Schwarzenbach-Initiative…

Gross: Ja, das stimmt. Aber man hat nicht auf Muslime geschossen. Oder so wie es die SVP mit der Ausschaffungsinitiative tut. Darum bin ich auch schon lange ein Anhänger der Verfassungsgerichtsbarkeit.

 

Wermuth: Die Gewerkschaften sind dagegen…

Vischer: Ja, das ist aber falsch. Der Widerstand der Gewerkschaften war eine ad hoc-Reaktion auf sozialpolitische Entscheide des EuGh. Sicher, diese Entscheide waren falsch. Aber man kann die Diskussion um die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht damit abwürgen.

Gross: Historische Vorteile der einen oder anderen Gruppe dürfen bei solchen Grundsatzentscheiden nicht überwiegen. Die SVP wird übrigens bald auf die Welt kommen. Wir werden in Kürze ein Gesetz zur Masseneinwanderungsinitiative verabschieden, das den Willen der Initianten nicht widergeben wird. Vielleicht wird sie das dazu bewegen, ihre Haltung zur Verfassungsgerichtsbarkeit zu überdenken.

Vischer: Kommt dazu, dass durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit dem Diskurs der SVP gegen die EMRK die Spitze gebrochen würde. Wir hätten dann einen richterlichen Grundrechtsschutz. Ein „eigener“, schweizerischer Grundrechtsschutz hätte eine viel höhere Akzeptanz.

 

Wermuth: Wieso ist eigentlich die SVP so stark geworden? Alle Umfragen sagen auch jetzt wieder, dass sie nochmals zulegen wird.

Vischer: Bis in die 90er Jahre gab es in der Schweiz einen historischen Konsens, teilweise mit, teilweise ohne Sozialdemokraten. Die SVP war eine staatstreue, aber weitgehend marginale Partei. Dieser Nachkriegskonsens umfasste das Bewusstsein, dass es ein gemeinsames Interesse an den Sozialwerken gibt, an der Armee, etc. Dieses ging erst nach dem Fall der Mauer zu Bruch…

Gross: Wobei Blocher seinen ersten grossen Auftritt bereits beim Eherecht 1968 hatte. Der Bruch hat sich also schon abgezeichnet.

Vischer: Aber er hatte damals keine Chance. Erst in den 90er Jahren.

 

Wermuth: Das Land steckt also seit diesem Bruch in einer Identitätskriese?

Gross: Nach dem 2. Weltkrieg hat die Schweiz aufgehört, die Frage nach ihrem Platz in der Welt zu suchen. Sie hatte eine Art geschützte Nische und fuhr damit eigentlich gut. 1990 kamen plötzlich zwei Fragen gleichzeitig zurück. Die nach der europäischen Integration, die man seit den 50er Jahren immer verdrängt hatte, weil sie uns immer an unsere „grausame Klugheit“ (Dürrenmatt) während des Krieges erinnerte, zu der wie gestanden waren.

Vischer: Von dieser These halte ich gar nichts!

Gross: Das ist mir durchaus bewusst. Sie ist dennoch sehr überzeugend. Denn. Dürrenmatt sagte auch, der Kriegsgeneration müssten gar keine Vorwürfe gemacht werden. Wer 2 Millionen Menschen das Leben rettet, darf durchaus auch unmoralisch handeln. Aber man muss es nachher dazu stehen. Jede Europadebatte hätte uns an dieses schlechte Gewissen erinnert. Nun fand die Debatte über Europa nur wirtschaftlich statt. Nun war 1990 plötzlich die Nische weg und die Schweiz war plötzlich alleine und unverstanden. Bis heute haben wir unseren Platz in Europa und der Welt nicht wieder gefunden. Die SVP nutzte das Vakuum, bewirtschaftete die Angst und setzte die Mythen fort, die uns schon zuvor mehr belasteten als befreit haben.

Vischer: Ich glaube vielmehr, die Schweiz hat heute einen besseren Ort in der Welt als 1988. Sie hat aussenpolitisch teilweise sogar eine sehr gute Rolle gespielt, z.B. im Iran unter Micheline Calmy Rey.

Gross: Du hast wohl noch nie von der Verschweizerung gehört, Dani? Verschweizerung bedeutet, sich in eine Nische zurückzuziehen und das, was einen betrifft, nicht mehr mitgestalten zu wollen, sondern sich zu ducken und zu hoffen, der Sturm gehe irgendwann vorüber. Die deutsche Diplomatie verwendet den Begriff heute als Schimpfwort.

Vischer: Ich glaube, diese Analyse stimmt nicht. Ich kritisiere den grün-roten EU-Beitrittseuphemismus. Ich fand das immer absurd. Es ist eine Fehldiagnose mit Habermaas zu meinen, die EU sei das Zentrum des neuen, aufgeklärten Europas als global ausstrahlender Leuchtpol. Die EU ist letztlich ein neoliberales Projekt. Die Fehlanalyse der Linken war, dann zu glauben, die Schweiz sei aus sich heraus nicht mehr reformierbar und brauche deshalb den Druck von aussen, von der EU. Man meinte, um deinen Begriff aufzunehmen, der Fortschritt der Schweiz gegen die Verschweizerung müsse von Brüssel her eingeflogen werden.

Gross: Das war nur Bodenmanns Fehlanalyse! Meine Position war das nie.

Vischer: Das mag sein, aber seine Haltung war prägend. Heute haben die Grünen und die SP das Thema EU – und übrigens die gesamte Aussenpolitik – eigentlich tabuisiert. Der EU-Diskurs unter Bodenmann war zwar falsch, aber immerhin war es ein Diskurs. Ich schliesse nicht aus, dass die Schweiz eines Tages der EU beitreten wird. Aber der Reformprozess der Schweiz muss hier stattfinden. Er steht nicht in Abhängigkeit von der EUisierung der Schweiz.

Gross: Völlig einverstanden. Man kann auch den vermeintlichen Fortschritt nicht an der Mehrheit vorbei importieren. Man muss die Menschen immer überzeugen, man kann sie nicht „erwischen“. Das war auch die Fehlüberlegung, als die SP vor zwei Jahren versucht hat, aus der anstehenden Abstimmung über die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien Kapital zu schlagen. Der Punkt ist: Die Entmachtung der Politik können wir nur überwinden, wenn wir die Demokratie transnationalisieren. Die erste Stufe der Transnationalisierung ist ein europäischer, föderalistischer Bundesstaat. Das war auch die ursprüngliche Idee. Der Europarat hätte eigentlich die verfassungsgebende Versammlung werden sollen. Man hat dann schrittweise die Verfassung durch Verträge ersetzt, die Bürger durch Regierungen. Die Idee der EU war aber, dass wir gemeinsam bewahren wollen, was wir alleine verloren hatten, den Frieden nämlich. Die Schweiz hatte eine andere Philosophie. Wir dachten, wir haben ja alleine drei Kriege überlebt – zwei Weltkriege und einen Kalten Krieg – also können wir auch in Zukunft genauso weiter machen. Die Globalisierung der Wirtschaft hat diesen Diskurs nach 1980 sogar noch befeuert. Das Problem bleibt aber das gleiche: Der Nationalstaat kann heute die Demokratie nicht mehr alleine verteidigen, deshalb muss sie transnationalisiert werden. Monnet und Schumann hatten genau das Anfangs der 1950er Jahre im Sinn: Wir machen jetzt vorläufig mal Verträge, weil realpolitisch nicht mehr drin liegt, aber mit dem Ziel einer europäischen Demokratie. Den kapitalen Fehler hat die Sozialdemokratie dann 1990/1991 gemacht, als sie in 2/3 aller damaligen zwölf EU-Staaten an der Macht war. Anstatt das Projekt der politischen Demokratie voran zu treiben, hat man den Euro eingeführt weil man Deutschland zwingen wollten, eine Art „Wiedervereinigungsdividende“ mit Frankreich zu teilen. Der Schuss ging nach hinten los. Trotzdem bleibe ich ein überzeugter Europäer. Und genauso überzeugt bin ich, dass die Institutionen der EU im beschriebenen Sinn dringend reformiert werden müssen. Die Alternative zur Demokratisierung ist, dass die beiden Regierungspräsidenten von Deutschland und Frankreich zusammen mit EZB-Chef, dem Kommissionspräsidenten und dem Ratspräsidenten die faktische Regierung bilden. Das ist der Abbau der Demokratie, nicht ihr Ausbau.

 

Wermuth: Das heisst: Ja oder Nein zum Beitritt?

Gross: Ich bin nach wie vor überzeugter Europäer. Aber es wird erst einen Beitritt der Schweiz geben, wenn das Demokratieproblem gelöst ist.

Vischer: Da haben wir keine Differenz. Aber es gibt ein zweites zentrales Problem für die Linke. Die Frage, ob es jenseits des Nationalstaates eine Perspektive für die Absicherung des Sozialstaats auf Kerneuropäischem Niveau gibt. Dies müssen wir heute leider verneinen. In den 90er Jahren dachten wir noch, die Schweiz habe im europäischen Vergleich einen unterentwickelten Sozialstaat. Heute hat sich das genau umgekehrt. Da der Sozialstaat in fast allen anderen Ländern abgebaut wurde, schwingt die Schweiz plötzlich oben auf.

Gross: Richtig. Der Staat hat seine Disziplinierungsfähigkeit gegenüber der Wirtschaft verloren. Aber das ist eine Frage des politischen Inhaltes. Das ist so, weil neoliberale Inhalte vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg plötzlich als verfassungsmässig interpretiert werden. Genau das können wir nur ändern, wenn wir die Verträge durch eine echte Verfassung ersetzen. Wir sollten einfach nicht vergessen: Die direkte Demokratie in der Schweiz wurde auch nicht 1848 von den Liberalen pfannenfertig geliefert. Das musste erkämpft werden. Die Schweiz wurde über Jahrzehnte hinweg langsam transformiert. Alle sozialen und politischen Errungenschaften waren zuerst einmal Forderungen von Bürgerbewegungen. Europa war bis heute nie Gegenstand einer Bürgerbewegung. Genau das wäre notwendig um eine demokratische Transformation hinzubekommen. Der Unterschied zwischen Verträgen und einer Verfassung ist eben revolutionär: Einmal sind die Bürger dabei, beim anderen nicht. Diese Machtumverteilung gibt es nur, wenn sie die Bürger auch wollen. Das steht uns noch bevor.

 

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