Ein Kommentator im Handelsblatt hat nach der Ankündigung von François Hollande, Frankreich befinde sich nach den Anschlägen von Paris im Krieg, darauf hingewiesen, dass die Armee nun konsequenterweise die französischen Vorstädte bombardieren müsste. Schliesslich sind die meisten radikalen Islamisten, die Anschläge wie jene vor wenigen Wochen in Paris verüben, in Europa aufgewachsen. Es sind Kinder der französischen Republik, Belgiens oder anderer europäischer Gesellschaften. In Frankreich und anderen Ländern hat nicht zuletzt die neoliberale Wirtschaftsagenda der vergangenen 20 Jahre dazu geführt, dass seine komplette Generation junger Menschen «überflüssig» geworden ist, wie es der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze nennt. Sie haben kaum berufliche Perspektiven, ihre Sichtweisen und Bedürfnisse spielen in der öffentlichen Debatte und auf dem politischen Parkett höchstens eine untergeordnete Rolle. Sie sehen keine Chance, ihren Anliegen auf dem demokratischen Weg Geltung zu verschaffen. Diese Entwicklungen stürzen die repräsentative Demokratie in eine tiefe Krise. Genauso wie die Radikalisierung der Kinder einer Einwanderungsgeneration weist das Erstarken des rechtsextremen Front National darauf hin. Beide Seiten – radikale Islamisten und rechtsextreme Rassisten – werfen der liberalen Gesellschaft vor, grosse Teile der Bevölkerung vergessen und verraten zu haben.
Vor diesem Hintergrund gewinnt das Heilsversprechen eines internationalen Salafismus, für gewisse Menschen offenbar an Attraktivität. Die stark wertebasierte Argumentation der Islamisten füllt eine emotionale Lücke, die die Kälte des marktradikalen Projektes hinterlässt. Und der Westen hat in den letzten Jahren nichts unterlassen, um den Vorwürfen der Janusköpfigkeit im Umgang mit der arabischen Welt Zündstoff zu verleihen: Die Militärinterventionen in Afghanistan, dem Irak oder Syrien endeten im regionalen Chaos. Sie haben das Entstehen von Terrormilizen ermöglicht und befeuert, nicht verhindert. Und während die europäischen Staatschefs jetzt mit emotionalen Appellen das Schreckensregime des IS im Irak verurteilen, sitzen ihre Unterhändler mit den saudi-arabischen Terror Financiers und Menschenschlächtern an den Tisch, um die nächsten Kriegsmaterialdeals oder Freihandelsverträge abzuschliessen. Es gibt nichts, was die grausamen Terroranschläge von Paris rechtfertigt. Aber wir müssen versuchen zu verstehen, wie es dazu kommen kann. Es gibt nach den Anschlägen von Paris weder einfache Erklärungen noch Antworten. Das heisst aber nicht, dass wir orientierungslos sein müssen. Sicher ist zum Beispiel, dass der neoliberale Kapitalismus im Inneren und gegen aussen scheitert. Und sicher ist, dass wir ein neues Wirtschafts- und Entwicklungsmodell als Grundlage für eine neue Weltordnung und für unsere Gesellschaften brauchen. Ein Modell, das sich tatsächlich für das Leben und die Wirklichkeit der Menschen interessiert und deshalb Menschenrechte, eine Ausweitung der Demokratie und ökologische Nachhaltigkeit als Leitlinien wählt.
Dieser kurze Text ist in links.ch 159/Dezember 2015 erschienen.