Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern: Rede zur Lancierung der 1:12-Initiative an der a.o. JV vom 4. Juli 2009

„Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern!“ Abgesehen davon, dass die Frauen vergessen gingen, beginnt das Theaterstück „Wilhelm Tell“ von Friedrich Schiller mit einem wunderschönen Satz. Es ist die Geschichte von einem unterdrückten Volk und seinem absolutistischen Herrscher. Eine Geschichte, wie sie überall auf der Welt stattfinden kann. Es ist die Geschichte vom einfachen Bauern, von Wilhelm Tell, der sich getraut aufzustehen. Er tut etwas für die damalige Zeit unglaubliches, etwas undenkbares, er bietet dem herrschenden Unrechtsregime die Stirn.

tellTell ist der erste, der hin steht und sagt, Stopp, bis hier und nicht weiter. Mit einem wahnwitzigen Unternehmen, seinem Sohn nämlich den Apfel vom Kopf zu schiessen, beginnt der Widerstand. Zuerst wird es ausgelacht, für verrückt erklärt. Ein einfacher Bauer will die Welt verändern und sein Volk und Land befreien. Und seine Botschaft an seine Landsleute ist revolutionär: Wenn wir nur wollen, wenn wir gemeinsam kämpfen, dann können wir ändern, was uns stört. Keine Angst, ich betreibe hier keine Verklärung. Aber dennoch wage ich zu behaupten, dass der revolutionäre Bauer als Symbol des Menschen, der aufsteht und für seine Sache kämpft, uns Jungsozialistinnen und Jungsozialisten näher ist als jedem konservativen oder rechtsnationalen Gedankengut. Es ist nämlich nicht weniger als die Message von Solidarität, die eigentlich den Gründungsmythos dessen, was wir als Eidgenossenschaft kennen, ausmacht.

Die Geschichte von Wilhelm Tell ist die Geschichte eines einig Volk von Brüdern und Schwestern, eines Landes, in dessen Verfassung steht, dass sich seine Gesellschaft messen lassen will am Wohl der Schwächsten. Wenn ich mir dieses Land aber nach 20 Jahren neoliberaler Politik anschaue, dann ist von diesem Gedanken der Solidarität nicht mehr viel übrig geblieben. Laut der Zeitschrift Bilanz – ein Blatt, das nicht gerade unter generellem Linksverdacht steht – besitzen die 300 Reichsten soviel wie fast 70% der gesamten Bevölkerung zusammen. Das sind Verhältnisse, wie sie Europa zuletzt wohl etwa zu Zeiten Wilhelm Tells gekannt hat. Die Löhne der Topmanager in den grössten Schweizer Firmen wuchsen in der letzten Studie von Travail Suisse um jährlich 80% – im Durchschnitt auf 2.7 Millionen Schweizer Franken. Mehr als die Hälfte der Schweizer Bevölkerung muss mit 40 mal weniger auskommen, mit knapp 70’000 Schweizer Franken. Und diese Zahlen haben sich in den letzten Jahren nicht etwa verbessert, im Gegenteil. Trotz Wachstum und Aufschwung profitieren vor allem die ganz oben. Auch sonst ist von Solidarität nicht allzu viel zu spüren: Das neoliberale Programm der letzten Jahre war Abbau der AHV, Zerstörung der IV, Ausgrenzung von Asylsuchenden, Invaliden, Frauen, Alten, Arbeitslosen und nicht zuletzt Jugendlichen. Obwohl in den letzten 10 Jahren die Zahl der Hunger leidenden Menschen von 300 Millionen auf über eine Milliarde explodiert ist, streitet sich das Parlament um eine 0,1 prozentige Erhöhung der Entwicklungshilfe. 20 oder 30 Jahre Neoliberalismus haben dieser Welt gerade jetzt eine Krise beschert, wie sie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr da war. Eine Krise, die lange schon keine einfach Wirtschaftskrise mehr ist, geschweige denn nur eine Finanzkrise. Es ist eine Krise unseres Gesellschaftsmodells. Ein Gesellschaftsmodell, das darauf berauf beruht, dass einige wenige immer mehr besitzen. Machen wir uns nichts vor, Politik ist eine Frage der Macht. Wer Macht besitzt, macht die Gesetze und formt die Gesellschaft. Macht ist in einer kapitalistischen Welt vor allem dort, wo sozialer und ökonomischer Reichtum produziert wird. Sie liegt in der Wirtschaft. Diese Macht erleben wir gerade auf eindrückliche Art und Weise. Wenn eine einzige Bank ein ganzes Parlament, eine Demokratie, ein ganzes Volks dazu zwingen kann, 68 Milliarden bedingungslos herauszurücken und dann auch noch die Arroganz besitzt, mehrere Milliarden als „Erfolgsbeteiligungen“ auszuschütten, dann haben wir ein Problem. Dann diktiert nicht mehr die Demokratie die Spielregeln, sondern die Interessen einiger weniger. Und genau darum geht es, Genossinnen und Genossen. Wer macht in diesem Land eigentlich die Spielregeln? Ist es die Demokratie oder ist es Daniel Vasella? Macht Daniel Vasella eine 1:12 Initiative unmöglich, weil er droht, auszuwandern, oder hat unserer Demokratie noch die Kraft zu sagen: Auch du, Daniel, spielst nach unseren Spielregeln? Warum zum Henker soll eine Gesellschaft, die ein Minimum an sozialer Gerechtigkeit auch bei den Löhnen einfordert, nicht möglich sein? Was taugt eine System noch, das zulässt, dass wir einerseits eine halbe Millionen Menschen zwischen 20 und 60 haben, die unter der Armutsgrenze leben und andere, die im Jahr eine, zwei, drei, zehn, ja 35 Millionen Franken verdienen?

Die Geschichte von Wilhelm Tell ist die Geschichte von einem unbändigen Willen für seine Ideale zu kämpfen und von einem untrübbaren Glauben, dass eine andere Welt möglich ist. Es ist eine Geschichte, die uns vielleicht nicht gerade als sozialistisches Traditionsgut bekannt ist. Der Mensch, der aufsteht und für seine Rechte kämpft, ist aber der Prototyp sozialdemokratischer Kämpfe: Unsere Bewegung hat sich nie damit zufrieden gegeben, ein Unrecht zu akzeptieren. Gegen alle Widerwärtigkeiten der Zeiten haben Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, Sozialistinnen und Sozialisten daran geglaubt, dass eine andere Welt möglich ist. Sie haben im Generalstreik 1918 gekämpft für Demokratie und Altersvorsorge, sie sind im spanischen BürgerInnenkrieg für die Freiheit gefallen, sie haben keine Ruhe gegeben, bis das das allgemeine Rechte auf Bildung, das Frauenstimmrecht, die Gleichstellung Homosexueller, die Mutterschaftsversicherung oder der Beitritt der Schweiz zur UNO, bis ihre Träume Realität wurden.

Genossinnen und Genossen, wenn wir heute sagen, wir wollen eine Schweiz, in der die höchsten Löhne nicht höher sind als zwölf mal der Mindestlohn, dann fordern wir für die heutige Zeit etwas unglaubliches, etwas undenkbares: Wir stehen als erste hin und sagen: Stopp. Mit dieser Welt muss es zu Ende gehen. Wir lancieren diese Initiative, weil es ein erster Stein ist, ein erstes Projekt raus aus der Defensive, der erste Baustein des Widerstandes. Genossinnen und Genossen, sie werden uns vielleicht auslachen, sie werden uns für verrückt erklären, für populistisch, für Utopisten. Eine Gruppe junger Leute will nicht weniger als die Welt verändern. Aber meine Botschaft an euch, und unsere Botschaft an dieses Land ist nicht weniger revolutionär als jene von Wilhelm Tell: Wenn wir nur wollen, wenn wir gemeinsamen kämpfen, dann ändern wir, was uns stört. Ab hier und jetzt, schreiben wir die Geschichte neu.

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