Zum 1. Mai 2011: Ali Baba und die 40 Räuber

Kennt ihr die Geschichte von Ali Baba und den vierzig Räubern? Ali Baba, der arme Holzfäller aus dem Orient, der von 40 Räubern geplagt wird, die in seiner Heimat regelmässig auf Raubzüge gegen die Bevölkerung gehen. Es gelingt ihm schliesslich, sich ihrer zu entledigen. Und das nicht etwa, indem er Hilfe von einer militärischen Macht aus dem Ausland holt, sondern mit der Hilfe einer Sklavin der untersten Kaste der Gesellschaft. Gewiss, Ali Baba ist nur ein Märchen aus 1001 Nacht. Aber es ist mir in den ersten Monaten dieses Jahres oft in den Sinn gekommen, wenn ich am Fernsehen gebannt die Bilder der Volksaufstände in der arabischen Welt verfolgt habe. 

Demokratischer Widerstand des 21. Jahrhunderts

Was die Menschen in Bahrain, Jemen, Ägypten, Tunesien, Syrien und natürlich Libyen in diesen Wochen leisten, lässt mich fassungslos zurück. Der Respekt vor diesem Heldenmut verschlägt mir die Sprache. Allen voran die muslimische Jugend, aber mit ihr die ganze Bevölkerung erteilt diejenigen, die uns hier weismachen wollen, Islam und Demokratie seien nicht vereinbar, gerade eine heftig Lektion darin, was es eben heisst, für seine demokratischen Rechte zu kämpfen. Oft im angesichts des Todes oder zumindest drakonischer Strafen gehen Millionen für Freiheit und Demokratie auf die Strasse. Wenn die Helden des 20. Jahrhunderts wohl die Kämpferinnen und Kämpfer gegen den Totalitarismus in Ost und Westeuropa waren, so sind die arabischen Völker wohl die Helden des 21. Jahrhunderts.

Auf der einen Seite erfüllt es mich mit Stolz, dass ich diese Bewegung – wenn auch aus der Ferne – so doch als Zeitgenosse miterleben darf. Auf der anderen Seite erfüllt es mich mit tiefer Scham. Die Scham darüber, dass mein Land jahrzehntelang nicht auf der Seite der nach Freiheit schreienden Völker gestanden ist, sondern auf der Seite der Diktatoren, Völkermörder und Kriegsverbrecher. Wenn die 40 Räuber bei Ali Baba ihre Beute tief in einer Höhle hinter einer meterdicken Steintür versteckten, dann konnten von Hitler über Ben Ali bis Mubarak alle Autokraten damit rechnen, ihren sicheren Bunker für ihre zusammengeraubten Vermögen bei den Schweizer Banken zu finden. Und wenn die 40 Räuber die Bevölkerung mit ihren Schwertern und Krummsäbeln bedrohten, dann war es auch immer die Schweiz, die stolz zu den ersten und eifrigsten Waffenlieferanten an die Terrorregimes gehörte. Sicherheitstechnologie für die Bunker von Ghaddafi, Schützenpanzer für Saudi Arabien, mit denen sie gerade eben den Volksaufstand in Bahrain nieder geprügelt haben. Und wenn die 40 Räuber ihre Beute zu Geld machen wollten, so war es auch die Schweiz, die all diesen Korrupten Öl abkaufte oder sogar Freihandelsabkommen anbot: Algerien, Ägypten, Tunesien und nicht zuletzt Libyen.

Fehler gemacht haben wohl alle. Aber was mich unglaublich rasend macht, ist die Flüchtlingsdiskussion, wie wir jetzt in der Schweiz wieder führen. Anstatt dass dieses Land stolz wäre, die Flüchtlinge aus Nordafrika aufzunehmen, machen die Blochers und Mörgelis mit freundlicher Unterstützung des Tages Anzeigers Wahlkampf auf dem Buckel von Menschen, die beim verzweifelten Versuch, nach Europa zu flüchten, zu hunderten in ihren überfüllten Fischerbooten buchstäblich verrecken – das ist eine verdammte, unwürdige Sauerei.

Manchmal denke ich, man sollte vielleicht die gesamte Führungsriege einer bestimmten Partei einpacken, in der tunesischen Wüte aussetzen – dort wo die Sonne nicht nur im Logo scheint – und sie dann sich selbst überlassen. Wollen wir doch mal schauen, ob sie immer noch von Wirtschaftsflüchtlingen reden, wenn sie es tatsächlich nach Hause zu ihren Villen auf dem Zürichberg schaffen sollten.

Ein Land der Abzocker

Ali Baba ist ein Märchen aus dem Morgenland, gewiss. Aber irgendwie erinnert mich die Geschichte von einer handvoll Mächtiger, die systematisch davon leben, die Mehrheit in ihrem Land abzuzocken, doch sehr stark an unser Land. Auch wenn wir das nicht gerne wahrhaben, so hat in der Schweiz in den vergangenen 15 Jahren ein Raubzug sondergleichen stattgefunden.

Während ¾ aller ArbeitnehmerInnen seit 1997 mit ihrem Lohnwachstum deutlich unter dem Wirtschaftswachstum geblieben sind, hat das das oberste Prozent heute einen 60% höheren Anteil an der gesamten Lohnsumme. Die Abzockerei, Genossinnen und Genossen, ist in diesem Land nicht mehr ein Einzelfall, sondern zur absoluten Regel in den Grossunternehmen geworden. Brady Dougan hat letztes Jahr Daniel Vasella in der absoluten Spitzenliga der Abzocker überholt. Während Vasella nur läppische 720 Mal mehr verdient als der schlechtest bezahlte Mitarbeiter bei Novartis, verdient Dougan 1800 Mal mehr. Obwohl, wir müssen fair sein, wenn wir den neuen Lohn, den Vasella jetzt als Verwaltungsratspräsident der Novartis verdient, auf die Zeit umrechnen, die er für dieses Amt investieren muss, dann verdient er 2642 mehr als die Putzfrau – und das auch nur, weil Novartis die Mensa und das Putzpersonal längst ausgelagert hat. Was hier abläuft, ist – und das muss einmal in dieser Deutlichkeit gesagt werden – organisierter und politisch gedeckter Diebstahl und sonst nichts.

Und das schlimme ist, Genossinnen und Genossen, das Parlament in Bern – zu 2/3 bekannterweise gefüllt mit Dienstboten der Grossbanken und Abzocker – tut nicht nur nichts gegen die aufgehende Lohnschere, sondern unterstützt dies sogar! Der absurde Steuerwettbewerb hat dazu geführt, dass heute – und das müsst ihr euch auf der Zunge zergehen lassen – der durchschnittliche Tieflöhner von den 4000 Franken, die er heute mehr verdient als vor 10 Jahre, nach Steuern und Abgaben noch genau 400 Franken – also 10% – übrig hat. Und jetzt kommt’s: Der durchschnittliche Hochlöhner, der heute 14’900 Franken mehr pro Jahr verdient, hat nach Steuern und Abgaben – Achtung – noch sage und schreibe 14’800 Franken übrig. Im Klartext: Wer heute mehr verdient, dem wird noch gegeben und der grosse Rest darf zahlen. Und das schlimmste ist, dass das Parlament in seiner Arroganz nicht mal mehr so tut, als würde es etwas gegen diese Umverteilung tun. Gerade eben hat man entschieden, obwohl bei der Unternehmenssteuerreform II offensichtlich krass falsch informiert wurde und der Bund nicht ein paar, sondern zig Millionen Franken Steuereinnahmen verlieren wird, die Abstimmung nicht zu wiederholen.

Mitten in der Krise bereichern sich die bereits Reichen mit Hilfe von CVP, FDP und SVP schamlos auf Kosten der Allgemeinheit. Das Resultat ist eindrücklich. Die Wirtschaftszeitung Bilanz erstellt jedes Jahr eine Liste der 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer. Nimmt man die Vermögen dieser 300 Reichsten im Jahre 2007, also vor der grossen Krise, zusammen, besassen sie ein Reinvermögen von 450 Milliarden – das ist mehr, als die Schweiz im internationalen Vergleich im ganzen Jahr an Wert produziert. Aber nehmen wir die Zahlen von 2010, dann besitzen diese 300 Reichsten zusammengezählt 470 Milliarden – 20 Milliarden mehr als vor der Krise. Eine Krise, die uns weltweit 200’000 Milliarden US Doller kosten wird, die eine ganze Reihe von Ländern an den Rand des Abgrunds bringt – Griechenland, Irland, Portugal, Spanien – eine Krise, die weltweit hunderte Millionen Arbeitslose und 200’000 in der Schweiz verursacht und die schaffen wird, nach Jahren des Fortschritts in der Armutsbekämpfung die Zahl der hungernden Menschen wieder über die Grenze von einer Milliarde zu drücken. 1% der Schweizer Bevölkerung besitzt heute bereits mehr Vermögen als wir alle restlichen 99% zusammen, während sich die Familien wieder fragen müssen, ob sie sich die Wohnung in der Stadt noch leisten können und 400’000 Menschen in diesem Land weniger als 3’500 Franken im Monat verdienen. Und wenn sie uns jetzt erzählen, wir hätten kein Geld für die Kinderzulagen, kein Geld für die Arbeitslosenversicherung, kein Geld für die Bildung, dann ist das nichts anderes als eine dreiste Lüge. Das Geld ist da, es ist nur am falschen Ort. Ob man das jetzt aus Gründen der political corectness sagen darf oder nicht, aber es ist die Wahrheit: Wir werden von einer Koalition der Abzockerfreunde regiert, die nichts anderes tun, als dieses Land Schritt für Schritt in eine Sonderzone für Superreiche zu verwandeln.

Und dieser Saubannerzug gehört endlich mit all unserer Kraft gestoppt! Die Menschen spüren, das hier etwas läuft und das macht Angst, zu recht. Es macht Angst um die Zukunft der Sozialwerke – kann ich mir die Pensionskassenbeiträge noch leisten? – Angst um den Arbeitsplatz, Angst um die Zukunft unserer Bildung und des Gesundheitssystems. Diese Ängste, sind real und wir müssen sie ernst nehmen. Aber sie führen zu verheerenden politischen Entscheiden. Die nationalistische Rechte nimmt diese Ängste in ganz Europa auf. Sie sagt den Menschen, wenn ihr euren Platz an der Sonne behalten wollt, dann müsst ihr gegen oben möglichst kuschen und gegen unten so fest zutreten, wie ihr nur könnt. Kuschen, wenn die Vasellas und Grübels drohen das Land mitsamt eurem Arbeitsplatz zu verlassen und treten gegen jene, die euch scheinbar bedrohen: Aufmüpfige Jugendlichen, Behinderte, Arbeitslose und vor allem Muslime und Ausländerinnen. Es sind die gleichen Leute, die da oben sitzen, die Menschen zuerst das Geld aus der Tasche ziehen, die sich immer mit Händen und Füssen und Millionenkampagnen wehren, wenn es darum geht, Mindestlöhne, Gesamtarbeitsverträge, Schwarzarbeitsgesetze oder gerechte Steuern zu verhindern und gleichzeitig behaupten, der Ali sei Schuld, wenn die Löhne sinken. Ich glaube es ist an der Zeit, dass wir uns alle – Jugendliche, Behinderte, Arbeitslose, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Secondos, Ausländerinnen und Muslime – endlich einmal zusammen tun und die Herren da oben eben in die Teile treten, die man sieht, wenn einer über dir sitzt.

Skandale der Atomlobby

Und diese Politik für die Sonderprivilegien von einigen wenigen auf dem Buckel von allen anderen gibt es nicht nur bei den Steuern, den Mieten, den Vermögen oder den Löhnen. Sondern sie ist zunehmend zur bestimmenden Logik in der ganzen Politik geworden, auch in der Energiefrage. Die Trägodie in Fukushima ist unglaublich und es zerreist uns alle fast, wenn wir das unsägliche Leid der Menschen mitansehen müssen. Der Super-Gau ist eine Katastrophe, aber der Skandal dahinter ist ein anderer. Der Skandal ist es, dass es die Atomlobby weltweit geschafft hat, die Profite einiger weniger gegen die Sicherheit der ganzen Bevölkerung durchzusetzen. Auch hier in der Schweiz hat die Atomlobby das Parlament nach wie vor fest im Griff und nach dem Putsch gegen unsere Bundesrätin Simonetta Sommaruga sitzt ihre Cheflobbyistin sogar im zuständigen Departement. Und diese Politik der Profite für ein paar wenige ist nicht nur kein Einzelfall, sondern hat System. Sie kommt eben überall dort vor, wo nur ein paar wenige entscheiden, was mit wichtigen Bereichen unserer Gesellschaft passiert und nicht die Demokratie. Dort, wo Grossbanken nur dem Shareholder-Value ihrer Aktionäre verpflichtet sind – mit verheerend Folgen für uns alle; dort, wo multinationale Unternehmen ganze Staaten in die Knie zwingen können, wenn sie drohen, die Arbeitsplätze zu verlagern; oder eben dort, wo die Energieversorgung nicht dem Gemeinwohl sondern der Rendite von ein paar wenigen verpflichtet ist. Und es ist an der Zeit, dass wir überall, aber vor allem in diesem Land, die Frage stellen, ob die Demokratie noch die Kraft hat, sich gegen die Vasellas und Grübels, Blochers, Ebners und Karrers durchsetzen, damit sich die eben nicht wie die 40 Räuber schamlos auf Kosten aller bereichern, oder ob dieses Versprechen schon nichts mehr wert ist. Wir wollen, als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, als Sozialistinnen und Sozialisten, als Grüne und als Linke, diesem Prinzip der Demokratie in Politik, Alltag und Wirtschaft zum Durchbruch verhelfen. Nichts anderes als genau das, hat die SP Schweiz an ihrem Parteitag in ihre neues Parteiprogramm geschrieben und ich verstehe bis heute nicht, was daran so wahnsinnig revolutionär und vor allem so unglaublich falsch sein soll. Franz Müntefering, ehemaliger Vorsitzender der deutschen SPD und gewiss kein Linksradikaler hat einmal gesagt: Der Kommunismus ist tot. Der Kapitalismus lebt. Er zerstört Freiheit und Demokratie. Dem gibt es nach Finanzkrise und Fukushima wahrlich nichts mehr hinzuzufügen.

Eine linke Politik der Hoffnung

Es ist mir völlig klar, dass es gerade nach Lausanne nicht immer einfach für euch war – und für uns auch nicht – die Partei und unsere Überzeugungen zu verteidigen. Weder im Parlament noch am Stammtisch noch am Arbeitsplatz. Genossinnen und Genossen, wir können uns stundenlang darüber streiten, ob es jetzt die richtigen Begriffe waren oder nicht. Es ist und es wird immer wahnsinnig schwierig und hart eine Politik zu betreiben, die sich getraut zu sagen, ja, wir glauben an diese andere Welt, auch oder gerade weil es sie so, wie wir sie uns vorstellen noch nie gegeben hat. Aber es ist zugleich auch genau das, was die Menschen in den 150 Jahren ihrer Geschichte immer wieder zu unserer Bewegung gebracht hat. Es ist die Politik der Ehrlichkeit und der Hoffnung. Ohne Hoffnung wären die Menschen 1918 im Generalstreik nicht für das Proporzwahlrecht und die AHV auf die Strasse gegangen. Ohne Hoffnung hätte es keinen antifaschistischen Widerstand gegeben. Ohne Hoffnung schon gar keine 68er Bewegung und ohne Hoffnung hätten Frauen und Männer den Kampf für das Frauenstimmrecht und die Gleichstellung schon lange vor 1971 fallen gelassen. Der Wahlkampfslogan der SP Schweiz drückt für mich genau diese Hoffnung aus: Ja zu einer Schweiz für alle statt für wenige. Und wenn jetzt die Propagandaabteilungen der bürgerlichen Parteien – fälschlicherweise auch bekannt als Tages Anzeiger oder Aargauer Zeitung – kommen und sagen, wir seien alles Idealisten, Gutmenschen, naive Weltverbessererinnen oder Utopisten, weil wir uns getrauen, an eine demokratischere Welt zu glauben, an eine Welt der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität und weil wir sogar die Frechheit haben, zu diesem Traum zu stehen – ja, dann, bin ich verdammt stolz, Gutmensch, Utopist, Weltverbesserer und Sozialdemokrat zu sein. Aber damit ich nicht nur auf die Journalistinnen und Journalisten einprügle, will ich ihnen zum Abschluss wenigstens noch den Skandaltitel von morgen liefern, in dem ich einen deutschen Sozialisten zitiere – sie können dann selber googeln, wer es war. Dieser Sozialist  hat einmal gesagt, der Revolutionär muss im Stande sein, das Gras wachsen zu hören. Und das Gras wächst, klein, aber es wächst. Es wächst in einer erstarkten Parteijugend, aber es wächst auch an der Urne. Genf, Fribourg, Waadt, Appenzell, Thurgau, Luzern – alle diese kantonalen und kommunalen Wahlen haben in den letzten Wochen gewonnen. Und das nicht aus Zufall, sondern weil wir die Partei sind, die auch ganz klar sagt, wie wir uns diese Politik der neuen Hoffnung vorstellen.

•    100’000 neue Arbeitsplätze durch sichere, erneuerbare Energie mit der Cleantechinitiative statt Profite für einige wenige und Risiko für alle mit Atomkraft.
•    Zahlbare Krankenkassenprämien und eine top Gesundheitsversorgung für alle dank der Einheitskasse statt Zweiklassenmedizin für einige wenige.
•    Gerechte Löhne für alle mit der 1:12 und der Mindestlohninitiative statt Sonder-Boni für einige wenige.
•    Gerechte Steuern für alle statt erneute Steuergeschenke für Superreiche.
•    Zahlbare Wohnungen für alle und überall im Land statt Lofts für pauschalbesteuerte Ölscheichs.
Das ist unser Programm. Und wenn wir alle bis am 23. Oktober an einem Strick ziehen, dann ist die Botschaft am 1. Mai 2011 klar: Dann sollen sich die Bürgerlichen schon mal verdammt warm anziehen!

Einer
für alle

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