Das neue Parteiprogramm der SP Schweiz hat bereits in seiner ersten Version für viel Wirbel gesorgt. Die Reaktionen, insbesondere in der Deutschschweiz, überraschen nicht: «Steinzeitkommunismus» sei das Papier. Es sei von «68er-Gutmenschen-Romantik» geprägt und die SP verloren, wenn sie nicht endlich den Schritt in die bürgerliche Mitte wage. Diese «Diskussion» sagt allerdings einiges mehr über den Zustand des Schweizer Journalismus aus als über das Papier selber. Darum hier vorneweg: Der Entwurf ist meines Erachtens sehr gut geraten. Hans-Jürg Fehr hat ganze Arbeit geleistet. Der vorliegende Artikel ist deshalb durchaus als konstruktiver Vorschlag zur Stärkung der vorgeschlagenen Linie gedacht.
Der Entwurf hält fest, dass in einer Welt, die weiterhin geprägt ist von politischer Unterdrückung und Gewalt, von gesellschaftlicher Bevormundung und ökonomischer Ausbeutung, im Kern sozialdemokratischer Politik nichts anderes stehen kann als der Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung. Er fordert daher konsequenterweise die «Demokratisierung aller demokratisierbaren» Bereiche der Gesellschaft. Als Vision schlägt das Programm die Wirtschaftsdemokratie vor. Gerade in der Umsetzung dieser Vision liegt aber die grosse Schwäche des Papiers.
Jeder eine Ich-AG
Dieses Ziel ist zwar grundsätzlich richtig, die vorliegende Analyse allerdings zu ökonomistisch. Sie sieht die Überwindung des Kapitalismus als reine Aufgabe des direkten Kampfes um Eigentumsverhältnisse. Das wird der Komplexität der kapitalistischen Hegemonie allerdings nicht gerecht. Was den Kapitalismus – und insbesondere seine heutige Ausprägung, den Neoliberalismus – so stark macht, ist, dass die materiellen Interessen von einem Gesellschaftsprojekt gestützt werden. Der Kapitalismus ist einerseits eine Herrschaftsform, deren Macht sich auf die ungleiche Verteilung der Produktionsmittel stützt. Das zwingt die Mehrheit in eine unverschuldete Abhängigkeit von Lohnarbeit. Wäre das aber schon alles, dann müsste es uns überraschen, warum das System, das seit seiner Existenz vor allem Krisen und Katastrophen produziert, trotzdem überlebt. Andererseits wird dieses System von einer Art ideologischer Superstruktur gestützt. Diese versucht die kapitalistische Produktionsweise zu legitimieren, indem sie ihre Funktionslogik auf andere Lebensbereiche überträgt. Für alle Bereiche des menschlichen Lebens soll eine Organisationsform eingeführt werden: Der Markt. Der Markt soll nicht mehr nur die wirtschaftliche Sphäre organisieren, sondern die gesamte Gesellschaft. Alles muss nach den Prinzipien des Marktes – durch Wettbewerb, Konkurrenz, Rationalisierung und Effizienz – organisiert sein. Und diese Marktlogik soll den Menschen schon so früh wie möglich als ganz grundlegendes Organisationsprinzip eingetrichtert werden.
KindergärtlerInnen müssen mit vier Jahren in ihr «Humankapital» investieren und Englisch lernen. Schülerinnen und Studenten sollen zum Leistungsdenken erzogen werden, sich gegenseitig messen, sich eben als Wettbewerber verhalten. Der einzelne Mensch soll sich nicht mehr als Subjekt empfinden, sondern als Ich-AG im Arbeitsmarkt, der vor allem darum bemüht sein muss, seine Position gegenüber den anderen Mitbewerbern zu verbessern. Das führt dazu, dass immer mehr Bereiche entdemokratisiert und privatisiert werden. Wir lösen Probleme nicht mehr gemeinsam durch Kooperation, sondern durch Konkurrenz – jeder und jede für sich. Diese Marktlogik ist aber für all jene, die ihre Regeln nicht bestimmen, totalitär und willkürlich. Sie entzieht sich dem Gestaltungsanspruch der Demokratie. Die Marktlogik wird zum Rahmen, in dem sich Politik und Gesellschaft überhaupt noch bewegen dürfen – statt umgekehrt.
Markt oder Demokratie?
Diese Analyse macht der Entwurf nicht oder nur ungenügend. Er müsste hinterfragen, wo sich diese Superstruktur in der Gesellschaft überall reproduziert und warum die Mehrheit diesen Konsens mitzutragen scheint. Weil dies fehlt, bleibt das Papier auch bei der künstlichen Trennung zwischen Vision und Realpolitik stecken. Ein krasses Beispiel ist das Kapitel zur Sozialpolitik: Praktisch unhinterfragt übernimmt es die Sozialstaatskonzeption der britischen Labour-Partei. Der «nachsorgende» Sozialstaat soll durch einen «vorsorgenden» ergänzt werden. «Vor» und «nach» was? Nach dem Markt eben. Anstatt die Logik der Demokratisierung voranzutreiben, sprich: eine Sozialpolitik zu konzipieren, die versucht, den Arbeitsmarkt Stück für Stück unter demokratische Kontrolle zu bringen, begnügt man sich damit, die Stellung des Einzelnen in diesem Konkurrenzmarkt durch Investitionen in sein «Humankapital» zu verbessern.
Der Neoliberalismus und seine Dogmen durchdringen zunehmend unsere ganze Lebenswelt. Und darum muss der Kampf auch überall dort geführt werden, wo diese Funktionslogiken bestehen oder neu eingeführt werden sollen. Er findet nicht nur am Arbeitsplatz statt, sondern auch in den Köpfen und Herzen der Menschen. Anders zusammengefasst: Sozialdemokratische Politik muss sowohl darum bemüht sein, eine reale Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb der Produktion zu erreichen, als auch die Deutungshoheit zu erlangen. Der Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung ist eben auch ein Kampf um die ideologische Vorherrschaft zwischen Markt und Demokratie in der gesamten Gesellschaft.
Dieser Artikel ist in der WoZ vom 15.04.10 erschienen.