«Die Schweiz lebt nicht über ihren Verhältnissen»

Was glauben Sie: Wie viele Milliarden Nettoschulden haben Bund, Kantone und Gemeinden zusammen? Also, wenn man vom gesamten Vermögen des Staates das gesamte Fremdkapital abzieht? 3,2,1 … was haben sie geraten? 10 Milliarden Franken, 20, 100? Die Wahrheit ist: gar keine. Ja, richtig, gelesen. Bund, Kantone und Gemeinden verfügen sogar über ein Eigenkapital von über 120 Milliarden Schweizer Franken (1). Entgegen den propagandamässig orchestrierten Behauptungen aus dem bundesrätlichen Finanzdepartement hat die Schweiz in den letzten Jahren nicht über den Verhältnissen gelebt, sondern wenn schon, dann darunter. Rein rechnerisch hat der Staat Dienstleistungen im Wert von 13000 Franken pro Einwohner nicht erbracht und das Geld stattdessen auf die hohe Kante gelegt. Das entspricht in etwa einer durchschnittlichen Krankenkassen-Jahresprämie einer vierköpfigen Familie.

Hinzu kommt: Die Bevölkerung hat in den letzten Jahren erlebt, wie schnell der Bund massive Geldsummen in kürzester Zeit aufbringen kann. Dies aber vor allem dann, wenn es um die Rettung von Banken und Unternehmen geht. Vor diesem Hintergrund für einen Staatsabbau zu argumentieren, ist sehr schwierig. Das Problem hat auch René Scheu, Direktor des konservativen Think-Tanks Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP), in seinem Gastbeitrag für diese Zeitung erkannt. Er greift zu einem Trick und argumentiert, die Bundesausgaben würden absolut steigen und 2026 bereits 90 Milliarden Franken betragen. Das stimmt, nur ist diese Zahl allein komplett nichtssagend. Wenn ich nur die Ausgaben anschaue, habe ich noch kein Bild über meine Finanzlage. Dazu muss ich auch wissen, was ich einnehme und wie mein Kontostand aussieht. Die Ausgaben des Bundes sind zwar in absoluten Zahlen gewachsen, aber seit Mitte der 1990er-Jahre gemessen an der gesamten Wirtschaftsleistung nicht mehr. Sie bewegen sich – Corona ausgenommen – stabil zwischen 10 und 11 Prozent des Bruttoinlandproduktes.

Scheu hat recht, wenn er meint, dass sich die aktuelle Debatte eigentlich gar nicht um finanzpolitische Fragen dreht. Vielmehr hat sich die rechte Mehrheit in Bundesrat und Parlament selbst in eine Sackgasse manövriert. Die unfinanzierte und unbegründete Aufstockung der Rüstungsmilliarden gerät in Konflikt mit der so genannten Schuldenbremse. Diese Regel soll eigentlich sicherstellen, dass sich die Ausgaben des Bundes nach den Einnahmen richten. Was auf den ersten Blick schlau tönt, erweist sich nun als kurzsichtiger Bumerang. Denn die Regel ist viel zu engstirnig ausgelegt und würgt so Investitionen ab. Bisher war das für Mitte-rechts immer ein willkommenes Argument, um gegen linke und gewerkschaftliche Vorschläge vorzugehen. Jedes Mal, wenn wir Investitionen vorschlugen, um mehr bezahlbare Kita-Plätze zu schaffen, die Prämien zu deckeln oder gegen die Klimakrise vorzugehen, hiess es, das sei auf Grund der Schuldenbremse nicht möglich. Jetzt rächt sich diese kurzfristige Sicht.

Es geht den Staatsgegnern im IWP und Finanzdepartement in der aktuellen Debatte um etwas anderes. Auch sie wissen, dass ein einigermassen effizienter und demokratisch organisierter Staat wie die Schweiz nicht wirklich «sparen» kann. Ein Unternehmen kann die Herstellung eines Produkts einstellen. In der Buchhaltung wird die entsprechende Stelle gestrichen, um die ehemaligen Angestellten kümmert sich der Staat. Beim Staat geht das nicht. Wenn die AHV-Renten angegriffen werden, die Prämienverbilligungen sinken sollen oder die Kita-Programme gestoppt werden, dann verschwinden weder die Rentner, noch die Versicherten, noch die Kinder. Es muss sich einfach jemand anderes um sie kümmern, also die Menschen selbst. Was sich aber ändert ist, dass die Solidarität ausgeschaltet wird und Reiche und Konzerne nicht mehr mitzahlen. Und um das geht es im Kern den Staatsgegnern: den Rückzug der obersten 10 Prozent aus der solidarischen Finanzierung der öffentlichen Ausgaben.

Dieser Gastebtirag erschien am 3. Oktober in der Aargauer Zeitung.

(1): Finanzstatistik der Schweiz (Detaillierte Daten FS, Standardauswertungen Bund, Kantone und Gemeinden, Tabelle 1)