Seit 2002 gilt zwischen der Schweiz und den Staaten der Europäischen Union die Personenfreizügigkeit. Das bedeutet, dass die Menschen von beidseits der Grenzen im europäischen Raum eine Arbeitsstelle annehmen dürfen und dabei die gleichen Rechte haben wie Inländer. Also Schweizerinnen in Deutschland, Deutsche in der Schweiz. Bis 2023 sind seither – vor allem aus dem EU/EFTA-Raum aber nicht nur – netto 1.5 Millionen Menschen in die Schweiz zugewandert (also Einwanderung abzüglich Auswanderung). 2002 gab es in der ganzen Schweiz 40’000 freie Wohnungen. 2020, also fast 20 Jahre und 1.5 Millionen eingewanderte Menschen später, verfügte die Schweiz über 80’000 freie Wohnungen. Ja, sie lesen richtig. 2020 gab es doppelt so viele freie Wohnungen wie 2002. Der Anteil leerer Wohnungen am Gesamtbestand ist auf dem zweithöchsten Niveau der letzten Jahrzehnte. Verrückt, oder? Jetzt behaupten doch Politiker:innen und Journalist:innen seit Monaten landauf und landab die Wohnungsknappheit sei eine Folge der Zuwanderung und dann schaut man zwei Zahlen an und merkt, das ist ja kompletter Quatsch. Es ist tatsächlich so. Richtig ist, dass kurz nach 2020 die Zahl der leeren Wohnungen zurück geht. Weil weniger gebaut wurde. Das hat aber mit der Zuwanderung schlicht nichts tun (und mit den Bauvorschriften übrigens auch nicht, die waren vor und nach 2020 genau gleich). Sondern nur damit, dass die Investoren gemerkt haben, dass sich nach jahrelanger Flaute an den Aktienmärkten wieder Geld verdienen lässt. Darum haben Immobilien als Anlageklasse an Attraktivität verloren. Ein besonderer Fall ist übrigens die Situation in den Städten, da sind die Wohnungen sehr knapp. Das ist nicht erst seit gestern. In der Stadt Zürich lag die Leerwohnungsziffer seit dem zweiten Weltkrieg immer unter 0.5%. Und sie lag auch schon tiefer als heute. Problematisch ist gerade für Familien in den Städten die renditegetriebene Aufwertung. Also alte Wohnungen abreissen oder sanieren und teurere neu vermieten. Das ist vor allem eine Folge des schwachen Mietrechts. Eine Studie der ETH zeigt, dass von dieser „Aufwertung“ gerade Ausländer:innen überproportional betroffen sind, weil sie aus den ehemals billigen Wohnungen fliegen.
Einseitige Schutzklausel – Schutz vor was genau?
Wohnungsknappheit und Mieten sind nur zwei Beispiele für die vielleicht heuchlerischste Diskussion, die wir zurzeit führen, die so genannte Zuwanderungsdebatte. Die Wahrheit ist: Für kaum ein Problem, für das die Zuwanderung zurzeit auf Titelseiten und Parteiprogrammen verantwortlich gemacht wird, sind die hier ankommenden Menschen wirklich verantwortlich. Politiker:innen verstecken sich gerne hinter diesem „Argument“: Die Ausländer sind schuld! Das ist nämlich praktisch. Man kann die Verantwortung für das Politikversagen bei steigenden Mieten, zu hohen öV-Preise, Lohndumping etc. abschieben und gleichzeitig können sich die Beschuldigten an der Urne nicht rächen, schliesslich haben sie ja kein Stimmrecht. Und wenn man mit dem Finger auf „die Zugewanderten“ zeigen kann, dann können sich die wirklichen Profiteure einfach verstecken. So schwankte zwischen 2002 und 2020 die jährliche Zahl von Zu- und Abwanderung erheblich. Nur eine Kurve zeigt stabil nach oben: Jene der Mieten. Die sind regelrecht explodiert, egal ob mehr oder weniger Menschen eingewandert sind. Von einem unkontrollierten Wohnungsmarkt und zu wenig Gewicht des gemeinnützigen Wohnbaus profitieren nicht die Migrant:innen, sondern die renditerorientierte Immobilienlobby. Jeder zweite SVP-Parlamentarier steht übrigens auf der Lohnliste dieser Lobby. Ein Schelm, wer Böses denkt…
Besonders absurd wird die Debatte aktuell gerade, wenn es um die sog. „einseitige Schutzklausel“ zur Personenfreizügigkeit geht. Damit soll die Schweiz, so die Forderung, einseitig die Möglichkeit erhalten die Zuwanderung zu beschränken. Die Forderung ist zuerst einmal unglaublich heuchlerisch, weil man sich schon sehr dumm stellen muss, um nicht zu sehen, warum so viele Menschen in die Schweiz einwandern. Sich in der Schweiz niederlassen kann man dann, wenn man in der Schweiz eine Stelle antritt oder als Familienangehörige/r mitkommt (den zahlenmässig irrelevanten Asylbereich einmal weggelassen). Wer bietet denn diese Stellen an? Richtig geraten, die Unternehmen. Die Schweiz ist Weltmeisterin darin, Firmen aus aller Welt ins Land zu locken. Sie tut dies – nicht nur, aber nicht unwesentlich – mit einer einem aggressiven Steuer- und Regulierungsdumping. Weil die Schweizer Konzernsteuern so lächerlich tief sind und kaum relevante Anforderungen im sozialen, gleichstellungspolitischen oder Umweltbereich gelten, ziehen massenhaft Konzernzentralen ins Land, resp. werden aktiv angeworben. Damit zerstört die Schweiz anderswo Milliarden an Steuerpotential und Arbeitsplätzen. Kaum hier angekommen werben diese Unternehmen dann aber aktiv Menschen in ganz Europa und der ganzen Welt an, weil nun Mal ein Kleinstaat wie die Schweiz nicht genügend Arbeitskräfte für so viele Headquarters stellen kann. Vor was also soll uns diese sog. Schutzklausel den schützen? Vor den Menschen, die ihren verlorenen Steuermilliarden und Arbeitsplätzen hinterherreisen, die wir hier ohne sie gar nicht besetzen könnten? Wollte man – und ich betone, das ist Konjunktiv – die Zuwanderung wirklich begrenzen, wäre die Massnahme einfach: Unternehmenssteuern verdoppeln, Standortförderung verbieten.
By the way, was viele vergessen: Die Idee der Schutzklausel ist nicht neu. Die Schweiz hat bereits Erfahrung damit. Nach der Einführung der Personenfreizügigkeit konnte die Schweiz die Bewilligungen für EU-Bürger:innen plafonieren und hat das auch gemacht. Bis 2007 waren die Daueraufenthaltesbewilligungen für die alten EU Staaten begrenzt, von 2006 bis 2011 und dann nochmals 2012 bis 2014 für die neuen EU-Staaten in Ost- und Südosteuropa. Ging deshalb die Einwanderung zurück? Nein. Was passiert ist, ist, dass die Unternehmen die Menschen dann eben über sog. Kurzaufenthaltsbewilligungen reinholten und dass es mehr Grenzgänger:innen gab. Das einzige, was man damit erreicht hat war wohl mehr Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen, da Kurzaufenthalter der Willkür der Arbeitgeber deutlich stärker ausgeliefert sind, wie Daniel Lampart (Chefökonom SGB) auf seinem Blog ausführt.
Wer ist hier Opfer?
Die Debatte um die zu hohe Zuwanderung hat die Realität phänomenal auf den Kopf gestellt. Sie erlaubt es uns, der Schweizer Politik und dem ganzen Land, sich als „Opfer“ darzustellen, weil wir unter den angeblichen Folgen leiden. Dabei ist das Land höchstens Opfer seines eigenen Erfolges und Wohlstandes. Eines zugegeben beeindruckenden Wohlstandes, der aber letztlich auch auf einem parasitären Wirtschaftsmodell beruht. Damit keine Missverständnisse entstehen: Ich bin zwar für die Erhöhung der Unternehmenssteuern für grosse Konzerne, weil die lächerlich wenig zu den öffentlichen Finanzen beitragen und der internationale Steuerwettbewerb ein einziges Desaster ist. Aber ich bin entschieden nicht der Meinung, dass wir eine staatlich-autoritäre Steuerung der Zuwanderung brauchen, wie offenbar inzwischen fast alle anderen Parteien von Mitte über FDP bis SVP (einfach, wenn die Bürgerlichen dann das nächste Mal behaupten, die Linken würden immer nach dem Staat rufen). Man kann als Land nur Netto-Einwanderungsland, Netto-Auswanderungsland oder Nordkorea sein (da geschieht weder das eine noch das andere). Eine vierte Option gibt es nicht. Und kein einziges Land, das über längere Zeit Auswanderungsland war (oder wie Nordkorea ist), entwickelt sich positiv. Ein Blick nach Ostdeutschland genügt, um festzustellen, was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn massenhaft Menschen abwandern. Niemand behauptet, dass eine wachsende Gesellschaft nicht Herausforderungen mit sich bringt, natürlich. Herausforderungen an die Infrastruktur, an die Lebensweise, an die Integrationsleistung, an die Sozialwerke, etc. Alles richtig und wahr. Nur, das stimmt seit es das Bevölkerungswachstum gibt. Dafür gibt es Politik. Um die Herausforderungen einer sich verändernden Gesellschaft zu lösen. Auf den Titelseiten ist die Schweiz schon untergegangen, als die Bevölkerung sieben Millionen überschritt (1995), als sie acht Millionen überschritt (2012) und jetzt, da wir zu neunmilliont in diesem schönen Land wohnen. Am Tag nach der fetten Überschrift ist das Leben jeweils weitergegangen, und das tut es auch jetzt.
Die Forderung nach einer Begrenzung der Zuwanderung wirkt geradezu grotesk, wenn man sich die absehbare Bevölkerungsentwicklung für die nächsten Jahre anschaut. Die Alterung der Bevölkerung wird den Fachkräftemangel massiv verschärfen. Stimmen die Prognosen nur halbwegs, dann wir uns das, was wir aktuell eben „Fachkräftemangel“ nennen, im Rückblick wie ein läppisches Vorspiel vorkommen. Die grossen Industrienationen der Welt reissen sich bereits heute um Einwanderer aus aller Welt. Vor diesem Hintergrund sei die Frage an all‘ jene erlaubt, die sich jetzt so stark machen für die Begrenzung der Zuwanderung: Wenn wir das wirklich tun, welches Spital schliessen wir dann zuerst? 1/3 aller Angestellten in Spitälern und Klinken sind Ausländer. Welche Schule soll zuerst zugehen, weil wir zu wenig Lehrer:innen haben? Welchen Bauernbetrieb schliessen wir zuerst, weil er keine Erntehelfer mehr findet? Wer genau soll unsere Strassen, Häuser bauen und Schienen legen, wenn die Ausländer nach Hause gehen? Wer nimmt zuerst seine Grosseltern zu sich nach Hause, weil wir die Pflegeheime schliessen wollen? Wer von den Herrn Burkart, Pfister oder Dettling übernimmt die erste Nachschicht auf dem Notfall, weil die Ärzte fehlen? Fakt ist: Wer gegen Zuwanderung ist, ist gegen den Wohlstand. Wer nicht bereit ist das zuzugeben – oder zumindest diese Fragen ehrlich beantworten will – sollte zu dieser Debatte besser schweigen.