Die Inseratekampagne der Unternehmervereinigung Stark+Vernetzt für die bilateralen Verträge mit der EU ist heute in allen Sonntagszeitungen (siehe Bild). Das ist gut gemeint. Aber bekanntlich ist gut gemeint oft das Gegenteil von gut. Unfreiwillig zeigt die Kampagne auf, wo das Problem liegt der liberalen Europapolitik. Nämlich genau bei den Köpfen auf dem Plakat. Sie untermauert das Bild einer Europapolitik für die wenigen ganz oben.
Grundsätzlich muss allen denen am europäischen Weg der Schweiz gelegen ist jede Unterstützung recht kommen. In Zeiten, in denen die Spitzen von Mitte und FDP offen Sympathien bekunden für die Angriffe auf die liberale Demokratie von Seiten der SVP sind wir oft schon um einzelne Figuren froh, die sich diesem Trend zum Irrsinn im Bürgerblock entgegenstellen. Nur reichen eben Inseratekampagnen nicht mehr. Man kann die Europapolitik der Schweiz nicht umdeuten, ohne nichts daran ändern zu wollen.
Nach dem Nein zum EWR (1992) hat sich die Europakoalition auf eine simple, aber effektive Formel geeinigt: Europäische Marktöffnung im Austausch für sozialen Schutz und Fortschritt. Dieses Rezept hat funktioniert. Der stetige Ausbau des Lohnschutzes, die Stärkung der Rechte der Lohnabhängigen, die Ausweitung von Gesamtarbeitsverträgen und die punktuelle Anpassung sozialstaatlicher Massnahmen haben dafür gesorgt, dass die „Integrationsdividende“ – also der zusätzliche Wohlstand durch die Annäherung an den europäischen Binnenmarkt – einigermassen gerecht verteilt wurde. Deshalb fanden die bilateralen Verträge knappe Mehrheit – im Unterschied zum EWR, der zum Beispiel keinen Lohnschutz vorsag. Genau dieser europapolitische Gesellschaftsvertrag ist aber ins Stocken geraten. Oder präziser: Er wurde von den Unternehmerverbänden und der pro-europäischen Rechten aufgekündigt. Es ist kein Zufall kommen auf dem Inserat nirgends Löhne, Renten, Mieten oder Prämien vor.
Seit einigen Jahren haben die Unternehmerverbände auf Angriff geschaltet. Systematische Angriffe auf das Arbeitsrecht, die Renten, die Löhne, die Steuergerechtigkeit, die Prämienverbilligung, den sozialen Wohnungsbau. Teilweise erfolgreich. So erfolgreich, dass die Ungleichheit in der Schweiz inzwischen Rekordwerte erreicht. Während die Unternehmensgewinne und Privatvermögen ganz oben explodieren, steigen die Mieten und Prämien unaufhörlich, die Kaufkraft der Löhne und Renten stagniert oder geht sogar zurück. Im Durchschnitt dürften die Personen auf dem Inserat Multimillionäre sein – tatsächlich nicht zuletzt dank der Bilateralen. Die gleichen Köpfe, die jetzt mit dem Schlagwort „mehr Wohlstand“ um die Bilateralen werben, erklärten noch vor kurzem (zusammen mit der SVP) wir hätten kein Geld für für 13. AHV-Rente. Sie kämpfen vor Gericht gegen kantonale Mindestlöhne, für tiefere BVG-Renten und werben jetzt gerade für eine Aufweichung des Mieter:innenschutzes. Und sie werden wohl nächstes Jahr – parallel zur Debatte über die Europapolitik – die Werbetrommel für ein Abbaupaket von Finanzministerin Karin Keller-Suter werben, dass die Kita-Finanzierung, die AHV, die Prämienverbilligung und den öffentlichen Verkehr angreift. Sie erbringen leider noch und nöcher den Beweis, dass sie unter „mehr Wohlstand“ primär „mehr Profit“ für sich selber verstehen. Ins Fäustchen lachen kann sich die SVP. Sie greift das Unbehagen über die Ungleichheit ebenfalls auf und macht – wie immer – die Ausländer:innen und Brüssel dafür verantwortlich. Einige Unternehmerverbände und die Spitze der FDP sind aufgesprungen und phatasiere über eine „Schutzklausel“, die offenbar alle Probleme lösen los. Ind er Hoffnung, damit die Frage einer gerechteren Verteilung der Integrationsdividende vermeiden zu können. Das wird nicht aufgehen.
Eine Stabilisierung und Weiterentwicklung der Europapolitik ist möglich und nötig. Solange die Unternehmerverbände den Kopf in den Sand stecken und die sozialen Realitäten der Mehrheit verleugnen, sind sie aber nicht Teil der Lösung, sondern das Problem. Sie müssen endlich akzeptieren, dass Europapolitik in der Schweiz neben Idealismus vor allem knallharte Verteilungspolitik ist. Die Menschen sehen, dass die Bilateralen Reichtum schaffen. Aber sie empfinden es als respektlos, wie wenig davon bei ihnen ankommt. Zu Recht. Darum reichen schöngeistige Inserate nicht, oder nicht mehr. Noch schlimmer: Sie werden zur Provokation. Krass ist, dass die Verbände inzwischen so weit weg sind von der Realität, dass ihnen das nicht mal mehr auffällt. Es braucht konkrete Politik, die die sozialen Schutz stärkt und die Ungleichheit auf dem Wohnungsmarkt, bei Einkommen, Renten und Löhnen verringert. Wir bieten Hand, wir wollen eine Lösung. Aber dafür braucht es eine Rückkehr zur sozialpolitischen Vernunft. Es ist zu hoffen, dass Stark+Vernetzt die ausgestreckte Hand annimmt, sobald es (wohl nächstes Jahr) mit der innenpolitischen Umsetzung des Verhandlungsergebnisses losgeht (sofern dieses gut kommt, was ich jetzt einfach mal hoffe).