Vor einigen Tagen habe ich mit unseren Töchtern über ihre Berufswünsche diskutiert. Sie sind zwar noch zu jung für einen Entscheid, aber es ist schön zu sehen, dass sie ganz selbstverständlich von Baggerfahrerin bis Ballett alle Optionen durchspielen. Das wäre vor wenigen Jahrzehnten kaum vorstellbar gewesen. Noch immer unvorstellbar ist hingegen der Horror, den Gisèle Pelicot durchmachen musste, weil ihr Ehemann sie zehn Jahre lang von 50 Männern vergewaltigen liess. Alles ganz „normale“ Männer. Gewerbler, Kaufmänner, Ehemänner, Elektriker aus dem Quartier. Die Täter sind Männer aus der Mitte der Gesellschaft.
Dieser krasse Fall war tagelang in allen Zeitungen. Gewalt gegen Frauen ist aber trauriger Alltag. Jede Frau, die ich kenne, kann von einem übergriffigen Verhalten berichten. Jede dritte Frau erlebt körperliche, sexualisierte Gewalt, alle zwei Wochen tötet ein Mann seine Partnerin oder eine Frau aus seiner Familie. Warum ist das nicht täglich auf den Titelseiten? Trotz der Allgegenwart von verbaler, psychischer und physischer Gewalt gegen Frauen schaffen es die meisten Männer das zu verdrängen – und damit auch eine Gesellschaft, die nach wie vor von Männern beherrscht wird. Wir machen unsichtbar, was wir nicht sehen wollen.
Das beklemmende Schweigen der Männer hat System. Ich merke das bei mir selbst. Es fällt mir schwer, über diese Dinge zu sprechen. Warum? Die ehrliche Antwort ist: Aus Scham. Weil wir alle gefangen sind in einer Form von Männlichkeit, die letztendlich die Gewalt an Frauen legitimiert. Vergewaltigungen werden möglich, weil wir in einer Kultur der Herabsetzung der Frauen durch Männer leben. Männer wachsen auf in der Überzeugung, sie hätten Anspruch auf eine höhere soziale Position als Frauen und Anspruch auf ihre Zuwendung. Die Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft spiegeln das wider: Männer besetzen mehr machtvolle Positionen, sie besitzen mehr Vermögen, sie verdienen mehr.
Auch als Politiker spüre ich diese Erwartung an „meine“ Männlichkeit täglich. Ich sollte nicht auf Hilfe angewiesen sein, keine Schwäche zeigen, keine Emotionen, keine Angst. Hart sein, wie die einsamen Helden in den Action-Filmen aus Hollywood. Aber das ist eben nicht die reale Welt. Diese falsche Härte macht auch uns Männer kaputt. Wir müssen an diesem Anspruch an Männlichkeit scheitern. Es staut nur Wut und Frust auf, die uns innerlich auffrisst. Oft entlädt sich das toxische Gebräu auch als Gewalt, die wir gegen uns selbst und gegen andere richten. Diese Prägungen sind tief in uns, niemand kann sich ihnen einfach entziehen. Aber es ist möglich, aus ihnen herauszuwachsen. Dafür braucht es aber grundlegende Veränderungen in unserer Kultur, in der Politik, in den Machtverhältnissen in unserer Gesellschaft.
Dabei nervt kaum etwas so sehr wie das inszenierte Wehklagen der Gottschalks dieser Welt, es sei ja heute für Männer alles so schwierig. Wir können im Kleinen beginnen. Zum Beispiel in dem wir dafür sorgen, dass nicht wieder einzig Journalistinnen, Politikerinnen, Expertinnen ihrer Empörung Luft machen. Sondern, dass, wie Pélicot fordert, die Scham die Seiten wechselt. Dass wir Männer Männergewalt als unser Problem begreifen. Dass wir das Schweigen der Männer brechen und der falschen Männlichkeit im Alltag eine Absage erteilen und der Gewaltspirale ein Ende setzen. Ein Anfang wäre, dass gerade auch Männer morgen Samstag an der breiten Demonstration «Schulter an Schulter gegen Gewalt und Unterdrückung» in Bern teilnehmen (Besammlung um 14 Uhr, Schützenmatte).»
Dieser Text ist am 22. November 2024 im Tagesanzeiger erschienen.