Der „Aufstand der Anständigen“ gegen die Glarner-SVP ist richtig, aber etwas scheinheilig

Und sie laufen! Nass und nässer
wird’s im Saal und auf den Stufen.
Welch entsetzliches Gewässer!
Herr und Meister! hör mich rufen! –
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist gross!
Die ich rief, die Geister,
werd ich nun nicht los.
aus: Der Zauberlehrling, Johann Wolfgang von Goethe

„Endlich!“ könnte man sagen. Durch die Aargauer Öffentlichkeit geht nach den neusten Gewaltexzessen aus der SVP-Spitze sowas wie ein Ruck oder zumindest ein Rücklein. Ein kleiner Aufstand der Anständigen. Was ist passiert? Andreas Glarner, Nationalrat und Präsident der SVP Aargau, hatte wieder einmal eine politische Gegnerin dem rechten Social-Media-Mob zum Frass vorgeworfen, weil ihm gewisse Entscheide nicht passten. Die betroffene Mitte-Grossrätin Rita Brem-Ingold erhielt darauf hin Drohungen und brauchte Polizeischutz. In einer gemeinsamen Erklärung verurteilten daraufhin FDP, Mitte, Grüne, GLP und SP im kantonalen Parlament Glarners Aktion, der Chefredaktor der Aargauer Zeitung schrieb einen für Aargauer Verhältnisse klaren Kommentar. Das ist zwar richtig, aber dennoch zwiespältig. Erstens, weil die gewalttätigen Methoden von Andreas Glarner längst nicht mehr neu sind und zweitens, weil das Problem weit über Glarner hinaus geht.

Wenn die Geschichte eine Lektion für die Demokratie bereithält, dann die, dass politische Kräfte der extremen Rechten immer dann Erfolg haben, wenn sie von den konservativen und liberalen Eliten toleriert oder sogar unterstützt werden. Das ist im Aargau seit Jahren der Fall. Medien, Mitte und FDP drücken nicht nur beide Augen zu, sondern surfen genüsslich mit auf der Welle von Hass und Hetze gegen Migrant:innen und Sozialhilfebezüger:innen. Am 22. September 2016 veranstaltete die SP Aargau mit 62 Partner:innen aus Gewerkschaften, NGOs und Kultur den „Aufstand für Anstand„. Fast 4000 Menschen demonstrierten damals in Aarau gegen die Methoden der SVP Aargau und ihres Chefs. Spätestens seit dann kann niemand mehr behaupten, er oder sie hätte es nicht gewusst. Danach folgten unzählige Aktionen nach dem gleichen Muster: Politische Gegner:innen werden im Netz mit (Halb-)Wahrheiten angeprangert, die Social-Media-Schlägertrupps gehen auf sie los, bis sie sich aus dem öffentlichen Leben zurück ziehen. Das hat nicht zufällige Parallelen zu den Methoden historischer, rechtsextremer Parteien, sondern offensichtlich. Bisher betraf das meist Frauen, Linke, Asylhelfer:innen, Migrant:innen. Fast immer Frauen. Das hat die kantonale Elite jeweils mit Schulterzucken zur Kenntnis genommen. Mehr noch, man surft nicht nur ebenfalls auf der fremdenfeindlichen Welle wie die FDP Aargau, ihre Präsidentin erklärt die erneut eingegangene Listenverbindung für die nationalen Wahlen wörtlich damit, das man mit der SVP Aargau „die gleichen Werte teile„. Schlimmer als die Möglichkeit, dass die SVP-Aargau einen weiteren Sitz ergattere, wäre die Vorstellung, dass dieser Sitz an die Linke gehen würde. Damit ist wohl alles gesagt.

Seit dem 23.10.2023 (also nach den Wahlen) ergibt die Suche nach dem Namen Andreas Glarner in der Aargauer Zeitung 137 Treffer. Der SVP-Präsident kommt fast jeden zweiten Tag in der Zeitung vor. Dass sich Chefredaktor der Aargauer Zeitung zum aktuellen Fall äussert ist, gut. Aber dazu würde auch eine ehrliche Betrachtung der eigenen Verantwortung gehören. Für Klicks hat man jeden Ausfall der SVP-Spitze immer gerne mitgenommen. Fast jede Woche erklären die lokalen Medien (alle im gleichen Monopol) Geflüchtete und Migrant:innen zum Hauptproblem der kantonalen Politik. Diese Ausrichtung ist ein politischer Entscheid. Die Spirale von SVP und Aargauer Zeitung verstärkt sich gegenseitig. Es geht hier längst nicht mehr um Andreas Glarner. Es geht darum, dass rechtsextreme Haltungen und Methoden auf diesem Weg in Mitte der Gesellschaft vorgerückt sind. Sie werden normalisiert.

Die gemeinsame Erklärung der Parteien erschien zwei Tage nach den kantonalen Wahlen. Wie praktisch. Bis zu den Wahlen unterstützten Mitte und FDP aktiv oder stillschweigend die bürgerliche Allianz für eine zweiten SVP-Sitz aus der gleichen Ecke. Deshalb fühlt sich die SVP Aargau mit ihren Hooligan-Methoden derart sicher, weil ihre keine Gefahr droht von ihren Allianzpartnern. Wetten, dass man den Fall längst ad acta gelegt hat, wenn es um die Listenverbindungen 2027 geht?