Rede am Parteitag der SP Schweiz vom 26. Oktober 2024, Davos
Seules les paroles prononcées font foi. Es gilt das gesprochene Wort
Liebe Genossinnen und Genossen
In Erich Kästners Roman «Der Zauberlehrling» reist der Kunsthistoriker Mintzlaff hierher nach Davos. Er trifft unterwegs auf den etwas kurligen Baron Lamotte, der offenbar Gedanken lesen kann. Angekommen in Davos stellt Mintzlaff fest, dass bereits ein Betrüger sich unter seinem Namen angemeldet hat und an seiner Stelle einen Vortrag halten will. Am Ende gelingt es dem Baron Lamotte den falschen Mintzlaff und dessen Gedanken so zu beeinflussen, dass sich dieser an einer Vorstellung selbst entlarvt und den Saal verlässt.
Ich weiss nicht, wer hier im Saal den Zauberlehrling gelesen hat, aber ich weiss, wer ihn garantiert nicht gelesen hat. Die Parteispitzen von Mitte und FDP. Sonst würden sie kaum so angestrengt versuchen, die SVP zu kopieren, um auch ein paar Sekunden Applaus von Rechts aussen. Zu spüren bekommen das insbesondere die Schwächsten in unserer Gesellschaft, wie neustens wieder Kriegsflüchtlinge. Im vollen Ernst hat der Nationalrat in der letzten Session beschlossen, dass der Familiennachzug von Flüchtlingen aus Bürgerkriegen verboten werden soll. Man muss sich vorstellen, was das bedeutet. Das bedeutet, dass eine Mutter oder ein Vater ihr Kind, das irgendwo auf der Flucht zurückbleiben musste, nicht in die sichere Schweiz holen darf. Ich bin selbst Vater, wir alle sind Töchter und Söhne – kann man sich etwas Schlimmeres vorstellen als das? Und das bei gerade einmal 100 Fällen pro Jahr. Solche Vorschläge gab es schon immer. Zuerst von ganz rechts aussen, also ganz, ganz rechts aussen. Also wirklich ganz, ganz, ganz, ganz rechts aussen. Dann von der SVP. Neu ist, dass auch die sogenannte Mitte und die ehemaligen Liberalen bei solchen Unmenschlichkeiten mitmachen.
Und das Schlimmste ist die Haltung, mit der sie das tun. Es ist nicht verschämt und versteckt, im Wissen, dass man etwas Törichtes macht. Sondern sie prahlen damit. Es ist diese Selbstdarstellung in heroischer Pose als Retter in höchster Not im vermeintlichen Asylchaos. Sich selbst lobend dafür, dass jetzt endlich jemand so richtig den Mut aufbringt, zuzuschlagen gegen die wehrlosesten Menschen in unserer Gesellschaft. Eine verstörende Lust an der Gewalt gegen unten. So wie richtige Männer halt sind. Eine aus der Zeit gefallene und erbärmliche Interpretation von Männlichkeit, wenn ihr mich fragt.
Mit was sie nicht gerechnet haben, das seid ihr, das war unser gemeinsamer Widerstand. Nach dem Entscheid des Nationalrats ist es uns gemeinsam gelungen, innert 24 Stunden über 130’000 Unterschriften zu sammeln gegen diese Ungerechtigkeit. Und siehe da, unter dem Druck der Strasse, unter dem Druck dieses Aufstandes der Anständigen hat am nächsten Tag der Ständerat reagiert und die Sache nochmals vertragt. Das ist zumindest ein Etappensieg gegen die Unmenschlichkeit. Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein in dieser Legislatur, dass sich die asylpopulistischen Hooligans unter der Bundeshauskuppel zusammenrotten. Das können wir nicht verhindern. Aber wir werden bereit sein und die Grundrechte in diesem Land mit allem, was wir haben, verteidigen, wieder und wieder und wieder, wenn es sein muss, darauf können sie sich verlassen.
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Dass die Rechten gerade jetzt in die Unterwelt des migrationspolitischen Irrsinns abrutschen – Lamas als Pull-Faktoren für Flüchtende lassen grüssen – ist kein Zufall. Der Lärm soll vor allem ablenken, die Titelseiten füllen, damit keiner mehr mitkriegt, wie sie ihre Politik für die Reichsten und Konzerne weiter durchsetzen. Quizfrage: Wenn ihr alles Vermögen der drei Staatsebenen Bund, Kantone und Gemeinden zusammenzählt. Und dann davon das gesamte Fremdkapital, also alle Schulden, abzieht, wie hoch ist dann die Nettoschuld des Staates? 10 Milliarden, 20, 100? Die Wahrheit ist: Gar keine. Die Schweiz hat netto Eigenkapital, als einer von ganzen wenigen Staaten weltweit. Aktuell 120 Milliarden oder fast 13’000 Franken pro Kopf. Nur diese eine Zahl entlarvt die ganze Panikmache aus dem Finanzdepartement von Karin Keller-Sutter, als das, was sie ist, als Propaganda. Sie tarnen Finanzpolitik als unheimlich komplexe Expertenwissenschaft und die Knappheit der Staatsfinanzen als unausweichlichen Sachzwang. Die Realität sieht anders aus: Schon wieder musste das Finanzdepartement diese Woche die Zahlen zahlen korrigieren, und zwar nach oben. Der herbeigeredete, finanzpolitische Untergang der Eidgenossenschaft ist wieder einmal abgesagt. Sowieso geht es eigentlich um etwas anderes. Finanzpolitik ist nichts anderes als eine Verteilungsfrage.
Was heisst es denn genau, wenn der Bund „sparen“ soll? Der Staat ist eben keine Firma. Wenn eine Firma eine Produktelinie einspart, dann gibt es das Produkt oder Dienstleistung nicht mehr, damit hat es sich. Wenn aber der Bund bei der AHV spart, bei der Prämienverbilligung, dem Klimaschutz oder bei der Kita-Förderung, dann sind deswegen weder die Rentner:innen weg, noch die Versicherten, noch die Klimakrise auch nicht die Kinder. Wenn der Staat in zentralen Aufgabenbereichen abbaut, dann verschiebt er nur die Kosten, und zwar auf uns, auf die Menschen, sehr oft auf die Frauen. Der rechte Plan in der Finanzpolitik ist nichts anderes als Klassenkampf von oben. Die erste Etappe des Plans der Marke KKS sieht vor, die völlig überrissenen Aufrüstungsfantasien für die Armee auf dem Buckel der Hilfe an die am stärksten von Gewalt, Hunger und Elend betroffenen Menschen auf diesem Planeten zu finanzieren. Rüstung statt Entwicklungszusammenarbeit. Taschenlampen zum Beispiel, die die Armee für 165 Franken pro Stück kaufen will, statt saubereres Wasser für die Ärmsten. Danach sollen in einer zweiten Etappe, der sog. „Aufgabenüberprüfung“ AHV, Prämienverbilligung, Klimaschutz und Kitas dran glauben. Nichts macht ihnen mehr Angst, als die an der Urne so erfolgreiche Koalition von Klimastreik, feministischer Bewegung und Gewerkschaften, für die unsere Partei steht. Von Konzernverantwortung über die die Steuerreferenden, bis Klimaschutz und Renten. Das darf nicht sein aus ihrer Sicht. Darum versuchen sie nun diese Entscheid der Bevölkerung an der Urne hinterrücks wieder zunichte zu machen aber das werden wir nicht zulassen.
Man kann keine Rede halten im Oktober 2024, ohne über den schrecklichen Krieg in Gaza und im Nahen Osten zu sprechen. Viele von euch sind seit den Massakern vom 7. Oktober an uns gelangt mit der Bitte, doch endlich etwas zu tun dem Sterben und Morden Einhalt zu gebieten. Viele von euch schicken uns Videos von sterbenden Kindern in Gaza. Von Menschen in Panik und Elend. Wir sind und fühlen uns so machtlos wie ihr. Ich weiss nicht, wie es weiter geht. Aber ich weiss, welche sozialdemokratischen Grundsätzen uns leiten müssen. Es sind drei. Erstens gibt es keinen anderen Weg als an der Notwendigkeit von gegenseitiger Empathie und Menschlichkeit festzuhalten. Wer im anderen nur noch den abstrakten, entmenschlichten Feind sieht, der versinkt in der Spirale von Hass und Gewalt. Eine Spirale, die bis zur totalen Vernichtung dreht. Zweitens gibt es keine, aber wirklich keine Alternative zum Selbstbestimmungs- und Existenzrecht Israels und seiner Bevölkerung. Und genau gleich, gibt es keine, aber wirklich keine Alternative zum Selbstbestimmungsrecht der Palästinenserinnen und Palästinenser und zum Existenzrecht Palästina.
Und drittens darf es keine falschen Solidaritäten geben. Niemals, Genossinnen und Genossen, können für Sozialdemokrat:innen oder Linke religiös-nationalistische Schergen wie die Hamas, die Hizbullah oder das iranische Terrorregime Verbündete sein, ihr Ziel nichts weniger als die Vernichtung allen jüdischen Lebens ist. Die romantische Verklärung solcher Islamofaschisten zu vermeintlich Befreiungskriegern ist, mit Verlaub, ein falscher, dummer und verheerender Kurzschluss. Aber genauso ist es grundfalsch aus falsch verstandener Solidarität die Taten und Kriegsverbrechen auch einer rechtsextremen israelischen Regierung zu leugnen oder zu entschuldigen, deren Minister von der Aushungerung und Wiederbesiedlung Gazas phantasieren, Schulen und Krankenhäuser bombardieren und UNO-Truppen beschiessen. Zur Wahrheit gehört, dass sich die israelische Kriegsführung unter keinem Titel mehr rechtfertigen lässt. Es braucht jetzt einen sofortigen und bedingungslosen Waffenstilland und ein Ende der Kriegsverbrechen auf allen Seiten.
Unsere Solidarität, als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, gilt keinen Regierungen oder Regimen, sondern gleichermassen den Opfern der Massaker des 7. Oktobers und des Krieges, ihrer Familien und den hunderttausenden jüdischen, christlichen, muslimischen, atheistischen Menschen, die auch jetzt im Nahen Osten fast jeden Tag für den Frieden und die Verständigung auf die Strasse gehen. Wenn sie, die Menschen vor Ort, die Hoffnung auf Frieden nicht aufgeben, dann haben wir hier schon gar kein Recht, zu verzweifeln, sondern die Verpflichtung, an ihrer Seite zu stehen, und das tun wir.
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Manchmal habe auch ich das Gefühl, der Zustand der Welt drücke mir die Luft ab. Genau dann kann Hoffnung nur eine Entscheidung sein. Es gibt die Erfolge, aber man muss sie sehen wollen. In grossen Konflikten, wie in kleineren Kämpfen. In den Demonstrationen in Israel, bei den Wahlen in Polen, Frankreich oder Europa, bei denen sich die Rechten trotz allen Prognosen gerade nicht durchgesetzt haben. Oder hier, vor unserer Haustüre. Nur ein Beispiel noch: Ich durfte am Montag an der Demo der Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Stahlwerk Gerlafingen auftreten, die um ihre Arbeitsplätze kämpfen. Es war sehr ermutigend, mit den Kolleg:innen für den Respekt und die Würde ihrer Arbeit einzustehen. Und es war sehr berührend, als Vertreter:innen des Klimastreiks ihre Solidaritätsbotschaft überbrachten. Ja, man hat gemerkt, dass das nicht ihre Welt ist. Aber sie waren da. Weil die einen wissen, dass das Werk für das Recyclieren von Stahl wichtig ist und damit für eine ökologische Krauslaufwirtschaft. Und die anderen, weil sie wissen, dass die Zukunft ihres Arbeitsplatzes von einer gelingenden Klimapolitik abhängt. Das ist es, Genossinnen und Genossen. Diese Koalition all jener, die über den eigenen Egoismus hinaus ein gutes Leben für alle, Respekt und Würde für Mensch und Natur gemeinsamen verteidigen und erkämpfen wollen: Das ist die SP, das ist meine SP. Und deshalb bin ich auch nach vier Jahren verdammt stolzer Co-Präsident dieser Partei.
Die zweisprachige Version der Rede ist unter folgendem Link abrufbar: https://www.sp-ps.ch/veranstaltung/davos2024/