Der jüdische Sozialist Magnus Hirschfeld war eine der führenden Figuren der deutschen Sexualwissenschaft der Weimarer Republik. In den 20er Jahren leitete er das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin und wurde vor allem mit seiner Theorie der Zwischenstufen bekannt. Diese besagt, dass es sowas wie einen „Vollmann“ oder eine „Vollfrau“ nicht gibt. Geschlechtsidentitäten würden sich, so Hirschfeld, vielmehr aus verschiedenen Elementen und eben Zwischenstufen des männlichen und weiblichen Zusammensetzens. Hirschfelds Thesen waren eine Provokation für die erstarkende NSDAP, für die das Bild des „starken, arischen Mannes“ ein zentrales Propagandaobjekt war. Sosehr, dass seine Bücher 1933 den berühmten Bücherverbrennungen zum Opfer fielen.
Man braucht kein Spezialist der Geschichte der Sexual- oder der Genderwissenschaften zu sein, um zu sehen, dass Hirschfelds Ansatz seiner Zeit weit voraus war. Wenn auch noch keine moderne Gendertheorie, so sind die Parallelen zu den Erkenntnissen der aktuellen Wissenschaft offensichtlich: Geschlechtsidentitäten sind nicht einfach binär (also Mann oder Frau), sondern vielfältig. Es geht mir hier nicht darum, verschiedenen Ansätze an sich zu diskutieren, sondern um die Frage, warum offenbar die blosse Hinterfragung von Geschlechteridentitäten in rechten Kreisen bis heute hysterische Reaktionen auslöst. So geschehen vor wenigen Tagen, als die Einladung zum – notabene seit 10 Jahren stattfindenden – Gender-Tag einer Schule in Stäfa (ZH) von rechten Exponnent:innen öffentlich angeprangert wurde. Mit dem Resultat, dass die Schule den Tag absagen musste, weil sie nach zahlreichen Drohungen die Sicherheit der Schüler:innen und Lehrer:innen nicht mehr hätte gewährleisten können. Ohne den Vergleich überstrapazieren zu wollen kann man feststellen, das Resultat ist das gleiche wie bei Hirschfeld: Auch diese Bücher konnten nicht studiert werden.
Das hat ironischerweise mit der tiefen Verletzlichkeit der Selbstbilder und Identitäten der Köppels und Glarners dieser Welt zu tun. In ihrer Welt haben sie – Männer, insbesondere die reichen – einen Anspruch auf eine privilegierte Stellung in der Gesellschaft. Ihre Machtpositionen in Politik und Wirtschaft haben diese Männer in ihrem Selbstbild einerseits naturgegeben und zweitens ihrer individuellen Leistungen zu verdanken. Sie sind es, die den Wert und Reichtum generieren, von dem sich die Gesellschaft dann grosszügigerweise so Dinge leisten darf wie Kitas, Spitäler oder eben Schulen. Weshalb sie auch ehrlich überzeugt sind, eigentlich mehr mitreden zu dürfen, was dort gelehrt wird als andere. Soweit ihre Gesellschaftsvorstellung. Faktisch aber ist die Sache etwas komplizierter.
Der Kapitalismus ist in hohem Masse von schlecht und unbezahlter Arbeit abhängig, vor allem von weiblicher Arbeit. Nur, weil sich so viele Frauen um die Erziehung der Kinder, die Betreuung der Kranken und die Pflege der Alten kümmern, gibt es überhaupt Menschen, die in den Unternehmen arbeiten können. Kein Manager überlebt die Kindheit, wenn sich nicht so 15 bis 20 Jahre (je nach dem länger…) jemand um ihn kümmert. Und niemand kann im Betrieb arbeiten, wenn nicht andere sicherstellen, dass sich gleichzeitig andere um die Menschen kümmern, die Pflege und Betreuung benötigen. Das hat uns spätestens die Corona-Pandemie eindrücklich vor Augen geführt. Diese Arbeit ist bis heute oft vermeintlich gratis – sie wird von Frauen als Familienarbeit verrichtet – oder schlecht bezahlt. Im Klartext: Frauen subventionieren heute die Gewinne der Unternehmen und die Löhne aller anderen.
Damit diese geschlechtliche Arbeitsteilung funktioniert, braucht es fixe Geschlechtsidentitäten und Rollenbilder, denen man gesellschaftliche Aufgaben zuweisen kann. Frauen erziehen Kinder, pflegen die Eltern, bleiben zu Hause wenn jemand krank ist, einfach weil das offenbar zum Frausein gehört. Wer sich aber mit Geschlechtsidentitäten und Rollenbilder beschäftigt, wird schnell feststellen, dass es für diese Arbeitsteilung weder biologische noch historische noch sonst welche unverrückbaren Begründungen gibt. Sie liegt nicht „in der Natur“ der Geschlechter, sondern ist das Produkt von Jahrhunderten des Patriarchats, also der männlichen Dominanz in der Gesellschaft. Und damit aber eben auch veränderbar. Und genau das ist der Punkt: damit werden gesellschaftliche Bewegung, die sich für nicht-binäre Geschlechtsidentiäten stark machen und die kritische Beschäftigung damit zur Bedrohung für jene Männer – und übrigens auch Frauen – die aus dieser vermeintlich natürlichen Arbeitsteilung Privilegien ziehen. Und das wissen sie auch, zumindest intuitiv.
Die Verhinderung der Auseinandersetzung mit Geschlecht, Patriarchat und Macht in unserer Gesellschaft – zunehmend sogar die offene Feindschaft gegenüber Aufklärung, kritischer Wissenschaft und Bildung – ist längst zu einem Merkmal der globalen Rechten geworden. Nicht nur in Genderfragen, sondern genauso in der Klima- oder Wirtschaftspolitik. Von Ron de Santis in Florida, über Putin bis zur BJP in Indien. Und nun offenbar auch bei uns. Das ist verdammt gefährlich. Am 9. Mai 2023 landete der Aufruf zum Boykott des Gender-Tages in Stäfa im Netz, am 11. Mai 2023 knickte die Schule vor den Drohungen ein. Dazwischen fand, am 10. Mai, der 90. Gedenktag der Bücherverbrennung in Berlin statt. Geschichte wiederholt sich nicht, aber manchmal beginnt sie sich zu reimen. Dann sollten wir verdammt vorsichtig werden.