Vergangene Woche hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Leiturteil entschieden, dass der Schweizer Staat die Menschenrechte verletze. Dies, weil er zu wenig tue um seine Bevölkerung – im konkreten Fall die Senior:innen – vor den Folgen der Klimakrise zu schützen. Er stellt eine Verletzung insbesondere von Artikel 8 der Menschenrechtskonvention fest. Dieser Artikel garantiert das Recht auf Schutz und Achtung des Privatlebens. Das Urteil ist zwar wegweisend, was die Rechtsprechung angeht, inhaltlich sagt der Gerichtshof aber eigentlich nichts neues.Dass die Klimakrise die Lebensqualität der Menschen bedroht, die Staaten deshalb handeln müssen und die Schweiz zu wenig tut, das ist eigentlich alles nicht neu, das wissen wir.
Wenn man darüber hinaus versteht, dass der EGMR die Schweiz nur deshalb rügen kann, weil sich die politischen Behörden nicht an Verpflichtungen halten, die die Schweiz selbst, freiwillig und demokratisch eingegangen ist – namentlich die Menschenrechtskonvention und das Pariser Abkommen – und das Gericht in keiner Weise vorschreiben will und kann, wie diese Unterlassung korrigiert werden soll, entfällt jeder Grund zur Aufregung. Oder zumindest erscheinen die hysterischen Reaktionen von rechts gegen den Gerichtshof doch erklärungsbedürftig.
Der Punkt ist folgender: Der Entscheid des Gerichtshofs ist deshalb so erfrischend frech, weil er der liberal-konservativen Lebenslüge den Spiegel vorhält. Diese Lebenslüge besteht darin zu behaupten, es gäbe eine unerschütterliche Symbiose von Kapitalismus und Menschenrechten. Insbesondere was die Eigentumsrechte angeht, zu denen ganz an erster Stelle das Recht auf die Unversehrtheit des Lebens gehört. In der liberalen Geschichtsvorstellung ist der Schutz des Lebens direkt mit dem Schutz des Eigentums generell verbunden. Also auch dem Privateigentum an den sog. Produktionsmitteln, zum Beispiel Maschinen oder Fabriken. Es geht mir hier gar nicht so sehr um die Frage, ob dieser Zusammenhang im historischen Rückblick korrekt ist. Sondern darum, dass sich diese vermeintliche Beziehung spätestens jetzt auflöst und in einen Gegensatz verwandelt. Jedes Mal, wenn wir von den Besitzern dieser Produktionsmittel und des Kapitals – also den Besitzern der Unternehmen – etwas mehr Solidarität oder gesellschaftliche Verantwortung verlangen, kommt der Aufschrei. Gerade, wenn es um Klimaziele oder Umweltauflagen geht. Der Gerichtsentscheid aber führt klar vor Augen, dass die Zukunft eine Entscheidung verlangt: Kapitalismus oder Menschenrechte. Weltweit nahm in den letzten Jahren die Ungleichheit zu, parallel zum steigenden Co2-Ausstoss. Ganz einfach, weil unser globales Wirtschaftssystem die Zerstörung natürlicher Ressourcen nicht nur zulässt, sondern sogar mit horrenden Profitmargen belohnt. Es bildete sich eine globale Elite der Kapitalbesitzer, die die Hauptverantwortung für die Klimaerhitzung trägt. Sowohl durch ihren Luxuskonsum – Stichwort Yachten und Privatjets – als auch durch ihre Wirtschaftsmacht. Sie entscheiden, ob Firmen weiterhin in die Umweltzerstörung investieren und damit Profit machen oder nicht. Der oder die einzelne kann natürlich mit ihrem persönlichen Konsumverhalten auch etwas beitragen – weniger Fleisch, weniger Plastik, nachhaltiger reisen, etc. – aber das bleibt im Vergleich immer ein Tropfen auf den heissen Stein. Das Recht derjenigen, die die weltweiten Reichtümer besitzen und kontrollieren, aus ihrem Eigentum so viel Profit wie möglich herauszuholen verletzt angesichts der dadurch angeheizten Klimakrise das Recht der grossen Mehrheit der Menschen auf dem Planeten auf ein intaktes Leben. Das Problem ist im Kapitalismus an sich angelegt. Dieses System lebt von Konkurrenz und Wachstum, das stets weiter in die Höhe geschraubt werden muss.
Die Zukunftsfrage lautet also ohne Zweifel: Kapitalismus oder Menschenrechte. Zumindest dürfte klar sein, dass dem Kapitalismus harte Zügel angelegt gehören, wenn wir im Kampf gegen die Klimakrise etwas erreichen wollen. Diese Erkenntnis trifft den Glaubenskern der Kapitalismus-Ultras offenbar schmerzlich. Die Vorschläge, wie man zumindest etwas und sehr pragmatisch in die richtige Richtung gehen könnte, liegen übrigens auf dem Tisch (hier und hier).