Rede zum 1. Mai 2024, Cédric Wermuth, gehalten in St. Gallen, unkorrigiertes Skript
Es gilt ausschliesslich das gesprochene Wort
Geschichte wiederholt sich nicht, aber manchmal reimt sie sich. Vor 150 Jahren, fast auf den Tag genau heute, schrieb die Schweiz Weltgeschichte. Am 19. April 1874 nehmen die stimm- und wahlberechtigten Männer des Landes die neue Bundesverfassung an, für die übrigens auch viele Frauen gekämpft hatten. Diese neue Verfassung ist weltweit einzigartig fortschrittlich. Der Staat emanzipiert sich definitiv von der Kirche, die Religionsfreiheit gilt endlich auch für die Jüdinnen und Juden.
Das Referendum auf Bundesebene wird eingeführt, die zivile Ehe und mit ihr das Recht auf Scheidung und die Kantone werden verpflichtet einen Primarschulunterricht für alle Kinder einzurichten, unabhängig von der Kirche. Das empört den Papst in Rom dermassen, dass er den Schweizer Freisinn in einer Enzyklika als „Synagoge des Satans“ bezeichnet, weil die FDP damals so fortschrittlich war. Ja, man glaubt es kaum, wenn man die Partei anschaut, die zwar diesen Namen immer noch trägt, aber kaum noch etwas vom revolutionären Inhalt. Die Verfassungsrevision von 1874 markierte das Ende einer schwierigen Zeit. Seit der Gründung der modernen Schweiz drei Jahrzehnte zuvor, hatte sich eine kleine Gruppe Oligarchen um Alfred Escher die Macht faktisch unter den Nagel gerissen. Unter ihrem Druck wurde in der Schweiz Mitte des 19. Jahrhunderts versucht, das Bahnsystem – diese damals neue, eben bahnbrechende Technologie – auf privater, gewinnorientierter Basis durchzusetzen. Mit den absehbaren Folgen. Während einige stinkreich und mächtig wurden, ging eine Bahn nach der anderen bankrott, Städte und Gemeinden blieben auf Bergen von Schulden sitzen. Die Gewinne privat, die Kosten dem Staat, schon damals. Die Verfassung von 1874 machte die Bahn zur Bundesangelegenheit, die Grundlage für die spätere Verstaatlichung des Bahnsystems und die Schaffung der SBB. Die Annahme der Verfassung war eben auch ein Aufstand gegen die Arroganz der Macht. Sie war Befreiungsschlag aus der Umklammerung einer Wirtschaftselite und ihrer wirtschaftsliberalen Ideologie, die jeden Bezug zur Realität der Menschen verloren hatte.
Erinnert euch das an etwas? Die Arroganz der Eisenbahnbarone, wie man sie nannte, und ihrer politischen Handlanger von damals erinnert kaum übersehbar, an die Arroganz des Finanzplatzes und seiner Handlanger in den rechten Parteien von heute. Könnt ihr euch erinnern, was es hiess, vor einem Jahr, nachdem die Steuerzahler:innen mal wieder eine Grossbank hatten retten dürften? Diesmal würde sich alles ändern, hiess es. Man hätte jetzt verstanden, sagten sie. Jetzt würde man schnell und entschieden handeln, versprach man uns. Und wo sind wir heute, ein Jahr danach? Nirgends sind wir, überhaupt nirgends. Keiner, kein einziger der Pleitemanager wurde zur Verantwortung gezogen. Keiner hat sich entschuldigt. Jeden Franken ihrer grotesken Boni haben sie behalten. Dafür haben wir jetzt eine Monsterbank, die jeden Tag eine Gefahr für die Steuerzahler:innen darstellt und wir haben Bankerlöhne, die durch die Decke gehen als sei nichts geschehen. 20 Millionen pro Jahr für den Chef einer neuen Monster-UBS, die der Staat geschaffen hat. Und wir haben so genannte bürgerliche Parteien, Mitte, FDP und SVP, die alle ihre Versprechen von vor den Wahlen, schon wieder vergessen haben und die Befehle vom Paradeplatz ausführen. Und genau das wird die Aufgabe unserer politischen Generation sein, das Land aus dem Würgegriff der Finanz-Oligarchen zu befreien. Das sind die fremden Richter, die niemand gewählt hat und, die wir zurückbinden müssen.
Und auch jetzt erleben wir die Zuspitzung einer Entwicklung, die schon viel zu lange andauert. Die Ungleichheit nimmt seit Jahren zu, dieses Jahr bricht sie Rekorde: Über 4000 Personen bekommen inzwischen mehr als 1 Million Jahresgehalt. Und die reichsten 10% kontrollieren über 75% des gesamten Vermögens in diesem Land. Auf der anderen Seite der Medaille stehen wir alle. Angefangen, bei jenen unter uns, die am meisten kämpfen müssen. 17% der Menschen in der Schweiz sind inzwischen arm oder armutsgefährdet. 17%, das sind 1.3 Millionen Menschen. Das sind mehr Menschen als alle Einwohner:innen der Ostschweiz, von Graubünden, beide Appenzell, Thurgau, Glarus, Schaffhausen und St. Gallen zusammen. Darunter 130’000 Kinder. Und der Druck auf das Portmonnaie, auf Kaufkraft hat längst nicht nur die ärmsten erfasst in unserer Gesellschaft. Die Kosten steigen, die Löhne stagnieren, wie der SGB in seinem neusten Verteilungsbericht auch wieder festhält. Das verfügbare Einkommen ist für weite Teile bis in die Mittelklassen seit 2016 zurückgegangen. Die Menschen kämpfen wieder darum Miete, Kita und Prämien bezahlen zu können.
Und was machen der Bundesrat und das Parlament in seiner Mehrheit? Diskutieren wir Massnahmen zur Stärkung der Kaufkraft? Sorgen wir für höhere Löhne, bessere Renten oder tiefere Mieten und Prämien? Nein, natürlich nicht. Wir diskutieren neue Bankenvorlagen. Zum Beispiel ob es eine weitere Absicherung braucht für die Banken, wenn sie mal wieder in die Krise kommen und Hilfe von Nationalbank und Papa Staat brauchen. Und genau das ist es, was die Menschen so wütend macht. Es ist diese bodenlose Anstandslosigkeit der politischen Eliten, die sich und ihre Klientel schamlos bedienen, diese Indifferenz und Respektlosigkeit gegenüber den Lebensrealitäten der Menschen und ihrer Sorgen. Dass man in Bundesbern denen da oben in den Chefetagen der Konzernzentralen, die sowieso glauben unser Leben sei nur dazu da, um ihre Profite zu mehren, dass man denen bei jeder Steuerreform und jeder Regulierung jeden Wunsch von den Lippen abliest und uns unten sagt, ja kümmert ihr euch doch mal eigenverantwortlich um eure Probleme. Das ist der unerträgliche Elitenegoismus, der endlich ein Ende haben muss, mit dieser unanständigen Arroganz und Respektlosigkeit muss Schluss sein, das lassen wir uns nicht mehr bieten.
Und es ist etwas passiert, wie 1874 an der Urne. Das Volk hat ja gesagt zur 13. AHV-Rente, erstmals in der Geschichte an der Urne ja gesagt zu einer Initiative, die den Sozialstaat ausbaut. Bis heute laufen die Rechten in Bundeshaus rum und verstehen die Welt nicht mehr. Sie können es sich nicht erklären, was da passiert ist. Dabei ist es ganz einfach. Die Menschen haben sich den fehlenden Respekt an der Urne zurück geholt. Respekt in diesem Fall für die Lebensleistung unserer Eltern und Grosseltern. Und genau diesen regelrechten Aufstand für den Respekt und Würdenmüssen wir weiterführen, wenn es im Juni um die Krankenkassenprämien gehen wird.
Ich habe vorgestern mit alt Bundesrätin Ruth Dreifuss gesprochen, einem Kind dieser Stadt St. Gallen und Mutter der obligatorischen Krankenversicherung. Ruth hat in den 1990er Jahren dafür gekämpft, dass in diesem Land der Zugang zu einer menschenwürdigen Gesundheitsversorgung nicht vom Einkommen abhängt. Das war das Ziel, als 1994 das aktuelle Krankversicherungsgesetz eingeführt wurde. Heute ist diese grundlegende Errungenschaft ernsthaft in Gefahr. Die Krankenkassenprämien sind in den letzten 20 Jahren um 160% gestiegen. Faktisch, die grösste Steuererhöhung ist, die dieses Land je gesehen hat. Und trotzdem hat die Politik nicht reagiert, die Prämienverbilligungen wurden in den Kantonen sogar noch gekürzt. Schliesslich waren die Steuersenkungen für Reiche und Grosskonzerne wichtiger. In keinem anderen europäischen Land zahlen die Menschen so viel für die Gesundheit aus dem eigenen Sack, nirgends ist die Solidarität so klein. Kein Land kennt eine solch unsoziale Finanzierung, in der Sergio Ermotti und die Kassierin in der Migros gleich viel Prämien zahlen. Und heute sagen 20% der Menschen, sie würden nicht mehr zum Arzt gehen, weil sie Angst hätten vor den Kosten, vor der teuren Franchise und dem Selbstbehalt, den sie übernehmen müssen. Das Genossinnen und Genossen, ist nicht mehr die Gefahr einer Zweiklassenmedizin, sondern die Realität. Am 9. Juni geht es darum, dass wir uns dieses Recht auf eine gute Gesundheit, die nicht vom Portmonnaie abhängt, zurückholen. Dass wir diesmal gemeinsam aufstehen für den Respekt vor all‘ jenen, die zu normalen Löhnen dieses Land am Laufen halten. Dass keine Familie mehr Angst haben muss vor der Rechnung der Krankenkasse, dass niemand aus Angst vor den finanziellen Folgen auf medizinische Behandlung verzichtet. Lasst uns diese Aufstand für Respekt von der Strasse am 1. Mai direkt an die Urnen am 9. Juni tragen.
Max Horkheimer, der Gründer kritischen Theorie, hat einmal gesagt, wer vom Kapitalismus nicht sprechen will, sollte vom Faschismus schweigen. Das gilt auch umgekehrt, gerade für einen Kapitalismus in der Krise. Und das sehen wir, weltweit, europaweit und auch hier. Überall erleben rechtsextreme Kräfte einen Aufschwung. Und nicht ein paar pubertierende Glatzköpfe, sondern Massenbewegungen, die Kerngehalt von Menschenrechten und Demokratie in Frage stellen, die Gleichwertigkeit und die Gleichwürdigkeit aller Menschen. Beängstigend ist, wie weit in die Gesellschaft diese Gruppen inzwischen vorgestossen sind, auch hierzulande. Und darauf braucht es eine glasklare Antwort, nicht nur von Linken und Gewerkschaften, sondern von allen Demokratinnen und Demokraten. Wenn der Präsident der grössten Partei in diesem Land Selfies macht mit rechtsextremen Frauengruppen, wenn rechtsextreme Gruppierungen Kampagnen machen für diese Partei, wenn sich Exponnent:innen dieser Partei mit geheimdienstlich überwachten Neonazis treffen, wenn ihre gewählten Vertreter:innen im Parlament den Faschismus relativieren und Neonazi-Gesten verteidigen, wenn die Hasskampagnen ihrer Exponenten gegenüber Frauen, der queeren Community und Migrant:innen den Kampagnen von offen neofaschistischen Gruppen zum Verwechseln ähnlich sind, dann sind das ersten keine Einzelfälle mehr und dann ist das zweitens, vor allem nicht normal. Dann braucht es hier eine ganz klare Linie, Genossinnen und Genossen. Wir lassen uns nicht spalten, wir verteidigen die Rechte, den Respekt und die Würde aller, die von Rechts angegriffen werden, von Frauen, von Migrant:innen, von Menschen aus der queeren Community genauso wie von alle, die von Lohn und Rente leben. Demokratie beginnt mit Antifaschismus. Denn Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen und genauso gehört er auch behandelt.
2024 kann, 150 Jahre nach der historischen Revision der Bundesverfassung von 1874, wiederum ein Jahr der Wende sein. Eine Wende hin zu einer Politik, die endlich den Respekt und die Würde der Menschen – die soziale Schweiz – ins Zentrum stellt. Es liegt an uns diese Chance zu packen.